In alten Geschichten wird zuverlässig berichtet, daß vier Leute: ein Zimmermann, ein Goldschmied, ein Schneider und ein Asket sich verabredeten, auf Reisen zu gehen. Sie machten sich also auf den Weg. Nachdem sie einige Zeit gereist waren, mußten sie nach Gottes Ratschluß eines Tages in einer gefährlichen bergigen Gegend übernachten. Sie hatten sich verabredet, daß sie aus Furcht vor schädlichen wilden Tieren nur abwechselnd schlafen würden.
Die Reihe kam an den Zimmermann, während die anderen drei sich hinlegten und schliefen. Beim Stillsitzen überwältigte den Zimmermann die Müdigkeit, so daß er, um sie zu vertreiben, sein Zimmermannshandwerkzeug in die Hand nahm. Er fällte einen geraden Baum, schnitzte ihn sauber aus, machte Kopf, Hände und Füße und formte eine Mädchengestalt. Danach kam die Reihe an den Goldschmied. Auch ihm kam beim Nichtstun der Schlaf. Da fiel sein Blick auf das Mädchen vor ihm, das der Zimmermann gemacht hatte. Er lobte die Kunstfertigkeit des Zimmermanns und, um den Schlaf zu bannen, wollte er auch seine Kunst zeigen. Er machte der Gestalt Ohrringe, Armbänder und anderen Frauenschmuck. Als er mit seiner Wache fertig war, kam die Reihe an den Schneider. Als dieser aufstand und die wunderbare Gestalt sah, war er sehr erstaunt und rief aus: „Da muß ich meine Kunst in würdiger Weise zeigen.“ Er machte ihrer ganzen Figur entsprechend prächtige Gewänder und bekleidete sie damit von Kopf bis zu Füßen. Wer sie ansah und nicht wußte, daß sie eine Figur war, hätte sie für ein lebendiges Wesen gehalten, gleich als ob sie geformter Geist sei. Als die Wache des Schneiders zu Ende war, weckte er den Asketen und legte sich selbst schlafen. Als der Asket aus dem Schlaf die Augen öffnete und das geformte Bild erblickte, da wurde er wie einer, dem in Abgeschiedenheit von der Welt das göttliche Licht erscheint, und er trat [194]näher an die Figur. Was sieht er da? Eine Gestalt, die selbst Asketen verführte, ein wunderbares Bild, dessen gewölbte Augenbrauen die Gebetsrichtung der Liebenden und dessen rubinrote Lippen die Nahrung für Herz und Seele sind. Sofort hob er seine Hände zu dem Schöpfer der Geister und betete: „O Herr der Stärke und Allmacht, o Gewaltiger, der du das reine Wesen Adams aus dem Dunkel des Nichtseins in das Gefilde des Seins gebracht hast und aus dürrem Holze die Früchte wachsen läßt, o Gott bei deiner großen Güte bitte ich dich, daß du mich vor meinen Genossen nicht beschämst und diese seelenlose Figur beseelen, ihr durch deine Gnade Leben schenken und ihre Zunge dich zu loben und zu preisen lösen mögest.“ Als er so bat, da schenkte Gott der Ewige, weil der Asket ein heiliger Mann war, dessen Gebet Erhör fand, in seiner Güte dieser Figur Seele und Leben und sie wurde ein glückliches, junges Mädchen, das wie eine schlanke Zypresse daherwandelte und wie ein Papagei sprach. Als es Morgen wurde und durch den Strahl der Sonne die Welt erleuchtet wurde, da fiel der Blick der vier Gefährten auf das herzraubende Götterbild, und sie wurden alle durch die Fesseln ihrer Locken gefangen und umflatterten wie ein Schmetterling das Licht ihrer Schönheit. Es entstand ein heftiger Streit und Zank unter ihnen. Der Zimmermann sagte: „Da ich sie geschaffen, so gehört sie mir; ihr habt kein Anrecht darauf.“ Der Goldschmied sagte: „Ich habe Gold und Schmuck an sie verwandt und Geld, das die Hälfte der Seele ist, für sie geopfert. Deswegen gehört sie mir.“ Der Schneider sagte: „Da sie durch meine Bemühungen zu höchster Schönheit und Vollendung gelangte und liebenswert wurde, so bin ich die Veranlassung, daß sie fähig wurde, den Lebensodem zu erlangen. Deswegen kommt sie mir zu.“ Der Asket sagte: „Dieses Mädchen gehört mir. Sie ist ein Werk meiner tiefen Frömmigkeit und ist mir eine Probe der im höchsten Himmel weilenden Hūrīs.36 Mein Recht ist klar.“[195]
Schließlich wollten sie alle, um ihre Ansprüche zu entscheiden, vor Gericht gehen. Da sahen sie, daß ein Wanderderwisch im Derwischmantel daher kam. Einmütig setzten sie den Derwisch zum Richter ein. Sie wollten mit seiner Entscheidung, wie sie auch ausfalle, zufrieden sein. Sie riefen ihn also heran und setzten ihm die Angelegenheit genau auseinander. Kaum hatte aber der Derwisch das Mädchen gesehen, als er sich in sie verliebte und wie eine Flöte zu klagen und zu seufzen anfing. Der Derwisch, nur in Gedanken, seinen eigenen Kummer zu lindern, schaute die Vier an und sagte: „Ihr Muslime, es ist ja reiner Unsinn, was ihr da sagt. Fürchtet ihr euch nicht vor Gott, derartig häßliche Taten zu begehen und meine legitime Frau mir zu nehmen, indem der eine behauptet, er habe sie aus Holz geschnitzt, und der andere, er habe für sie gebetet. Sagt doch etwas, das Verstand und göttliches Gesetz erlauben. Diese Frau gehört mir und die Sachen, die sie trägt, habe ich ihr machen lassen. Vor einigen Tagen ist zwischen uns ein kleiner Streit entstanden, und in der vergangenen Nacht ist sie aus Ärger aus meinem Hause gegangen. Ich habe mich, um sie zu suchen, auf den Weg gemacht und sie mit Gottes Hilfe gefunden. Macht euch nicht lächerlich vor den Leuten mit derartigen sinnlosen Reden. Das ist ja Unsinn.“
Der Derwisch bestand noch mehr als die anderen auf seinem Anspruch. So gingen sie alle fünf mit ihren Ansprüchen in die Stadt direkt zum Stadtvoigt und erzählten ihm ihren Fall. Als der Stadtvoigt das Mädchen sah, verliebte er sich noch tausendmal mehr als sie und sagte: „Ihr verruchten Räuber, dies Weib ist die Frau meines älteren Bruders. Räuber haben ihn umgebracht und seine Frau entführt. Gott sei Dank, das Blut bleibt nicht ungerächt. Ihr habt euch selber gestellt.“ Er bestand also noch mehr als sie alle auf seinem Anspruch und führte sie vor das Gericht zum Kadi. Als ein jeder dem Herrn Kadi seinen Anspruch auseinandergesetzt hatte, blickte der Kadi auf das Gesicht des Mädchens.[196]
Ein reizendes Mägdlein vor Augen er sah,
Anmutig vom Haupt zur Zeh stand sie da!
Ihr Wuchs jeden Schauenden liebekrank machte,
Verderben ihr stolzer Zypressengang brachte.
Den Erdball mit Not ihre Wimper bedroht,
Ihr gottloses Blinzeln mit Hölle und Tod.
Wo Markttag sie hielt auf der Liebe Basar,
Da bot man als Preis tausend Seelen ihr dar.
Wo die Flut ihrer Reize das Herze bestürmte,
Kein Damm widerstand, kein Verstand da beschirmte.
Der Ehrbarkeit Burg ward vom Gießbach verheert,
Von Liebe des Anstandes Grundbau zerstört!
Sogleich faßte ihn das Verlangen, das Mädchen zu besitzen und er sagte: „Freunde, dieser Prozeß ist nichtig. Dieses reine Mädchen ist in meinem Hause aufgewachsen und seit ihrer Kindheit an wie ein Kind von mir gehalten. Sie ist meine Sklavin. Den Schmuck und die kostbaren Kleider, die sie trägt, hat sie von mir erhalten. Durch Taugenichtse verführt, hat sie mich verlassen. Durch Gottes Güte ist sie durch eure Bemühungen gefunden, und meine Absicht ist erreicht. Euer Liebesdienst wird bei Gott nicht vergessen bleiben, ihr werdet von ihm euren Lohn erhalten.“ Als er so sprach, sahen die vier Genossen, daß der Kadi über sie großes Unglück, vor dem sie sich nicht schützen könnten, bringen würde. Der Asket wendete sich zum Kadi und sagte: „Mewlana37, geziemt es sich, indem du Anspruch darauf erhebst, auf dem Teppich des Propheten zu sitzen, daß du einen Prozeß von Muslimen nicht nach dem göttlichen Recht entscheidest, sondern selbst Ansprüche auf dieses Mädchen erhebst und sie uns mit Gewalt entreißen willst, indem du erklärst, sie sei deine Sklavin. In welcher Rechtsschule ist das denn gestattet? Und wie willst du dich dereinst vor Gottes Richterstuhl verantworten?“ Da antwortete der Kadi: „Du Betrüger, um die Leute zu täuschen, hast du durch Fasten [197]dein Aussehen verändert, damit die Leute sagen sollen, aus Gottesfurcht ist er so krumm wie ein Bogen geworden. Nun gibt es ein bekanntes Sprichwort: Der Lügner muß ein gutes Gedächtnis, scharfen Verstand und Einsicht haben. Du hast aber weder das eine noch das andere. Du Narr, wenn du schon eine verrückte Lüge vorbringst, so darf sie doch nicht ganz ungereimt sein. Kann ein Mensch aus Holz entstehen? Gebt also diesen Prozeß auf und geht weg. Wenn nicht — wie ihr wollt. Ich habe meine Sklavin wiedergefunden.“
Der Asket sagte: „Fürchte dich vor Gott und schäme dich vor dem Propheten und entscheide den Prozeß nach dem göttlichen Recht.“ Der Kadi und der Asket sagten sich gegenseitig Worte, wie sie ihnen gerade auf die Zunge kamen, und es entstand ein großer Streit. Ihr Zwiegespräch änderte sich in Zwiespalt. Diese sieben Leute waren aus Liebeskummer nahe am Blutvergießen und rüsteten sich zum Kampf. Da traten die Verständigen der Stadt zusammen in der Absicht, sie zu versöhnen, und sagten: „Ihr Gläubigen, euer Prozeß läßt sich nicht entscheiden und die Schwierigkeit kann niemand lösen, wenn nicht der Allmächtige in seiner Güte ihn erledigt. In einem Ausspruch des Propheten heißt es: ‚Wenn ihr in Zweifel seid bei den Dingen, so sucht Hilfe bei den Begrabenen.‘ So wollen wir denn mit euch auf den Kirchhof gehen. Ihr betet und wir wollen Amen sagen. Es ist zu hoffen, daß Gott der Erhalter dies Geheimnis offenbar mache.“ Alle erhoben sich und gingen auf den Kirchhof. Der Asket erhob die Hände und sprach: „O, du Mächtiger und Allwissender, du kennst den Grund dieses Prozesses. So löse in deiner großen Güte diese Schwierigkeit, damit deutlich werde, wer recht hat.“ So betete er unter heftigem Weinen, und alle Leute sprachen: Amen.
Während des Gebetes hatte sich das besagte Mädchen an einen großen Baum gelehnt. Plötzlich teilte sich jener Baum und nahm das Mädchen in sich auf. Dann schloß [198]sich der Baum wieder, und das Geheimnis des Spruches: „Jede Sache kehrt zu ihrem Anfang zurück“ wurde klar.