Die Geschichtenüberlieferer und Märchenerzähler berichten folgendes. In alten Zeiten hatte eine alte Frau eine sehr liebenswürdige Tochter, die an Schönheit nicht ihres gleichen in der Welt hatte. Dies Mädchen saß in ihrem Zimmer und stickte. Eines Tages am Abend kam durch das Fenster ein Vogel und sprach sie in wohlgesetzter Rede an: „Meine Prinzessin, vierzig Tage wirst du einen Toten bewachen und dann das erreichen, was du willst.“ Dann flog er weg. Das Mädchen legte sich am Abend schlafen und schlief ein. Am nächsten Tage, am Abend, kam wie das vorige Mal der Vogel, sprach wieder zu ihr und flog weg. Das arme Mädchen erzählte ihrer Mutter die Worte des Vogels. Die Mutter sagte: „Ach, mein Mädchen, wann kommt der Vogel?“ Das Mädchen sagte: „Heute Abend kommt er wieder.“
Am Abend verbarg sich die Mutter in einem Schranke. Der Vogel kam wieder und sagte: „Meine Prinzessin, vierzig Tage wirst du einen Toten bewachen und danach das erreichen, was du willst.“ Dann flog er wieder fort. Als die Mutter dies hörte, sagte sie: „Ach, mein Mädchen, komm, wir wollen uns vor dem Vogel retten und flüchten.“ Darauf nahmen sie ihre Sachen, die an Last leicht, an Wert schwer waren, und machten sich auf den Weg. Sie kamen an ein anderes Schloß, wohnten in einem Teile außerhalb des Schlosses. In der Nacht legten sie sich schlafen und schliefen ein. Der Vogel kam wieder, ergriff leise das Mädchen und führte es in ein Zimmer innerhalb des Schlosses. Dann flog der Vogel weg. Als das Mädchen seine Augen öffnete und sich umschaute, sah sie sich in dem Schlosse, und in der Mitte des Zimmers lag in einem Bette ein Toter. Als das Mädchen das sah, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden und sagte: „Ach, nun hat der Vogel doch recht. Das ist von Gott; ich werde ertragen, was mir auf die Stirne geschrieben ist11. Das Ende wird ja gut, so Gott will.“[51]
Wir wollen das Mädchen hier lassen und uns zur Mutter wenden. Am Morgen erwachte die Mutter aus dem Schlaf und sieht, daß das Mädchen nicht dort ist. Sie sagt: „Ach, während ich meine Tochter vor dem Vogel retten wollte, habe ich sie mit eigener Hand zugrunde gerichtet“, schrie und weinte, kehrte in ihr Haus zurück und trauerte um ihr Kind. Nun kommen wir wieder zu dem Mädchen. Tag und Nacht schlief sie nicht und weinte. Schließlich am neununddreißigsten Tage saß sie am Fenster und sah traurig auf das Meer. Da kam von Persien ein Schiff und fuhr vor dem Schlosse vorbei. Sie gab dem Kapitän mit der Hand Zeichen und sagte: „Nimm diese zehntausend Piaster und gib mir eine Sklavin.“ Das Mädchen ließ einen Strick hinab und zog die Sklavin nach oben und hing ihr eine goldene Kette um den Hals. Das Mädchen freute sich und sagte: „Gott sei Dank, nun habe ich eine Gefährtin gefunden.“ Genau am vierzigsten Tage sagte sie zu der Sklavin: „Du, bleibe hier, ich werde ein wenig die Zimmer ansehen und wiederkommen.“
Das Mädchen ging weg. Die Sklavin bleibt allein. Während sie sich nach allen vier Ecken umsieht, niest der dort liegende Tote, steht auf, wird lebendig, öffnet die Augen, sieht die Sklavin und sagt: „Mädchen, hast du mich bewacht?“ Das Mädchen sagte: „Ja, ich habe dich bewacht.“ Dieser dort liegende Prinz hatte nämlich früher geschworen: „Wenn mich jemand vierzig Tage bewacht, so werde ich, wenn ich sie bei meinem Aufstehen sehe, heiraten.“ So hatte er beschlossen.
Dann nahm er die Sklavin und fragte sie: „Ist außer dir noch jemand sonst hier?“ Da antwortete sie: „Ja, in jenem Zimmer ist meine Sklavin. Ich habe sie um Geld gekauft und die Goldstücke, die sie am Halse trägt, habe ich ihr auch gegeben.“ Dann rief sie ihre Herrin: „Komm Mädchen, der Herr verlangt nach dir.“ Als das Mädchen eintritt und sieht, daß die Sache ganz anders geworden ist, sagt sie: „Auch das ist von Gott. Man muß es mit Geduld [52]tragen.“ Das Mädchen zog Dienerkleider an und tat im Hause oben und unten ihren Dienst. Eines Tages sagte der Prinz zur Herrin: „Ich werde auf die Reise gehen, was wünschst du dir von mir?“ Die Herrin antwortete: „Ich wünsche mir von dir eine Menge Diamanten und Türkise.“ Als er die Dienerin fragte: „Was wünschest du dir?“ sagte sie: „Ich wünsche mir den Geduldstein. Wenn du ihn vergißt, soll bei deiner Rückkehr das Vorderteil des Schiffes pechschwarzer Rauch sein.“
Darauf ging der Prinz weg nach Jemen. Einige Monate blieb er dort und erledigte seine Geschäfte, kaufte den Auftrag der Herrin und vergaß den Auftrag der Sklavin. Als er abfuhr, sah er, daß vor dem Schiffe pechschwarze Dunkelheit und hinter ihm Helligkeit ist. Das Schiff konnte nicht fahren. Der Kapitän rief die Soldaten und sagte: „Wenn unter euch ein Verfluchter ist, so soll er hinausgehen.“
Als der Prinz dies hörte, kam ihm der Auftrag der Sklavin in den Sinn. Es war tatsächlich so geworden, wie sie gesagt hatte. Dann kehrte das Schiff um, und der Prinz stieg aus, kaufte den Geduldstein wie ihm aufgetragen und kam zum Schiffe zurück. Da war das Vorderteil des Schiffes hell und sein Hinterteil Nebel. Mit Gottes Gnade fuhr es wie ein Vogel in kurzer Zeit nach seinem Lande. Er stieg aus und betrat das Schloß. Die Herrin und die Dienerin stiegen die Treppe hinab, begrüßten ihn und führten ihn nach oben. Er gab der Herrin den von ihr verlangten Auftrag und der Dienerin den Geduldstein. Sie waren zufrieden. Am Abend ging das Mädchen in ihr Zimmer und blieb dort. Der Prinz und die Herrin legten sich schlafen. Als sie schlief, kam es dem Prinzen in den Sinn: „Was mag die Sklavin wohl mit dem Geduldstein anfangen?“ Da die Herrin schlief, erhob er sich, ging leise an das Zimmer, in dem die Sklavin war, und beobachtete durch das Schlüsselloch das Mädchen.