Die Geschichtenüberlieferer und die Märchenerzähler berichten folgendes. Die Kinder eines Padischahs blieben in der Welt nicht am Leben und starben immer. Eines Tages kam dem Padischah ein weiblicher Nachkomme in dieser Welt zum Leben. Zu dieser Zeit sagten ihm der Arzt und der Hodscha1, nachdem sie Untersuchungen angestellt hatten: „Padischah, wir wollen für deine Tochter unter der Erde eine Grube machen lassen, dort mag sie dann aufwachsen, da es keinen anderen Ausweg gibt.“
Dem Padischah der Welt gefiel diese Rede. Es wurde dann unter der Erde eine an allen vier Ecken bewachte Grube hergestellt. Man brachte das Kind in die Grube, bestimmte eine Kinderfrau, die ihm morgens und abends sein Essen brachte. Um es kurz zu sagen: das Kind kam so hier in sein vierzehntes oder fünfzehntes Lebensjahr. An Schönheit hatte es nicht seinesgleichen.
Eines Tages langweilte sie sich an diesem Orte und stellte alle Stühle, die in der Grube vorhanden waren, übereinander und stieg darauf. Sie brach die Glasdecke entzwei, steckte den Kopf hinaus und sah hinaus. Da sah sie ein weites Meer. Als die Sonne darauf leuchtete, glänzte es so, daß man nicht hinschauen konnte. Ach, sagte sie: „Wenn die Erde ein Unten hat, muß sie auch ein Oben haben“, und war einige Zeit in Staunen versunken. Dann stieg sie herab und blieb, wo sie war. Danach kam ihre Kinderfrau. Die sah auf einmal, daß die Glasdecke zerbrochen war. Jetzt fragte sie das Mädchen: „Wer hat das Glas zerbrochen?“ Da fing die Prinzessin an zu sagen: „Führe mich von hier fort oder ich bringe mich selber um.“
Die Kinderfrau ging von dort zum Padischah und erzählte alle die Worte, die die Prinzessin gesagt hatte, eins nach dem andern. Der rief wieder die Ärzte zusammen. Die sagten nach wiederholter Prüfung: „Padischah, hole [8]sie heraus, aber nicht sofort. Bis sich ihr Auge gewöhnt hat, mag sie etwas spazieren gehen, und dann bringe sie wieder in die Grube.“ Die Wärterin ging und führte die Prinzessin aus der Grube in einen Rosengarten. Als sie (die Prinzessin) dort spazieren ging, sah sie den Ozean und verfiel in Nachdenken. Sie ging von dort zu ihrem Vater und sagte: „Vater, laß mir sofort auf dem Meere, das wir dort sehen, einen Glaspalast machen, darinnen sollen auch Diamant- und Goldstühle und schöngestickte Möbel sein. Wenn du ihn nicht machen läßt, bringe ich mich sofort um.“
Der Padischah sagte: „Aber mein Kind, der Palast soll sein, wie du ihn dir wünschst.“ Dann gab er den Glasmachern Befehl. Sie fingen sofort an, auf dem Meere einen Palast zu machen. Genau in einem Jahre wurde er fertig. Dann gaben sie dem Padischah Kunde. Er ging an das Gestade des Meeres und sah ihn sich an. Das war ein solcher Glaspalast, daß jeder, der ihn sah, geblendet wurde. Mit Worten ihn zu beschreiben, ist unmöglich. Sein Glanz erfüllte die Welt.
Die Prinzessin kam und küßte ihrem Vater die Hand. Der Padischah sagte: „Mein Kind, der Glaspalast, wie du ihn gefordert hast, ist fertig geworden. Nimm dir einige Sklavinnen, geh hinein und wohne darin mit Vergnügen.“
Darauf nahm die Prinzessin, da sie jung war, einige Sklavinnen zu sich und betrat in feierlichem Zuge mit ihnen den Palast. Sie zogen ein und gingen dort spazieren.
Die mögen sich nun Tag und Nacht vergnügen, wir kommen jetzt zum Dschihan-i-alem2. Manche kamen zu Schiffe und manche zu Boot und sahen sich den Palast an. Eines Tages, als der Sohn des Padischahs von Jemen von diesem Palast hörte, wunderte er sich. Sofort ging er zu seinem Vater und sagte: „Mein mächtiger Vater, der Padischah von Stambul hat auf dem Meere einen Glaspalast bauen lassen, der sich nicht mit Worten beschreiben läßt. Wenn Sie erlauben, möchte ich hinreisen und ihn ansehen. [9]Nach ungefähr drei bis vier Monaten komme ich wieder.“ Da gab sein Vater die Erlaubnis.
Er nahm einige Gefährten zu sich, bestieg ein Schiff und machte sich auf den Weg. Tag und Nacht fuhren sie, ohne sich aufzuhalten. Nach einiger Zeit erschien in der Ferne etwas Wunderbares. Sein Glanz erfüllte die Welt. Der Prinz sagte zu seinen Gefährten: „Das, was dort erscheint, muß das erwähnte Schloß sein.“
Endlich nach einigen Tagen kam er an das Schloß heran und umfuhr es von allen vier Seiten. „Sehe ich ein Luftschloß oder träume ich?“ sagte er und verfiel in Nachdenken. Schließlich als es Abend wurde, ging er dort vor Anker.
Der Prinz mag nun auf dem Verdeck liegen; wir wollen uns jetzt wieder zur Prinzessin wenden. Sie ging vor das Vestibül, blickte nach draußen und sah, daß vor dem Palast ein Schiff lag. Als sie noch sagt: „Wem gehört das wohl?“, sieht sie den Prinzen. Das war ein Jüngling, gleich dem Monde am Vierzehnten. Sofort verliebt sie sich in ihn bis über die Ohren. Auch der Prinz, als er die Prinzessin sieht, wird bewußtlos und fällt ohnmächtig auf die Erde. Nach einiger Zeit kommt er wieder zu sich und steht auf. Er blickt auf das Fenster, kann aber das Mädchen nicht sehen. Während er sagt: „Ach, einmal möchte ich sie noch sehen!“ und hinblickt, verfällt er in Schlaf. Jetzt kommt die Prinzessin an das Fenster und sieht, daß der Prinz eingeschlafen ist. Da seufzt sie und aus ihren Augen fließt statt Tränen Blut. Während sie weint, fällt auf das Gesicht des Prinzen ein Tropfen. Sofort wacht er auf und sieht, daß aus den Augen der Prinzessin statt Tränen Blut fließt. Jetzt sagt der Prinz zum Mädchen: „Da ist das Schiff und da ist ein günstiger Wind nach Jemen!“ Das Schiff setzt sich in Bewegung und er fuhr in sein Land. Eines Tages kam er nach Jemen und blieb dort. Wir wollen uns jetzt wieder zur Prinzessin wenden. Ihre beiden Augen waren eine Quelle (d. h. sie weinte andauernd in Strömen). Sie ging zu ihrem [10]Vater und sagte: „Vater, ich wünsche von dir ein Schiff von reinen Diamanten, dessen Kabinen mit Edelsteinen geschmückt und dessen Masten aus Rubinen sein und in dessen Innern sich vierzig weiße, junge, schöne Sklaven befinden sollen. Wenn du mir das nicht machst, werde ich mich töten.“ Er sagte: „Schön, mein Kind, das Schiff soll sein, wie du es wünschest.“ Dann rief er die Goldschmiede zusammen und gab ihnen Befehl. Noch an jenem Tage fingen sie mit dem Schiff an. Nach genau zwei Jahren war es fertig. Jetzt kam die Prinzessin zu ihrem Vater, küßte seine Hand und sagte: „Vater, gib mir Erlaubnis, ich werde einen Luftwechsel vornehmen und, wenn Gott will, bald wiederkommen.“ Da ihr Vater auf der Welt nur eine teure Tochter hatte, so tat er, was sie wollte, und gab ihr gezwungenerweise wohl oder übel die Erlaubnis und sagte: „Mein liebes Kind, laß mich nicht lange auf dich warten! Allah möge Heil geben!“
Das Mädchen nahm dann vierzig weiße Sklavinnen und vierzig weiße Sklaven zu sich und außerdem eine Palasteinrichtung, ging auf das Diamantschiff und blieb dort die Nacht. Am nächsten Morgen, als es Tag wurde, wurden zweiundzwanzig Kanonenschüsse auf der rechten und auf der linken Seite des Schiffes gelöst. Dann fuhr man ab.
An jenem Tage lobte sie die ganze Welt und Hunderttausende priesen sie mit den Worten: „Was ist das für eine geschickte Prinzessin!“ Die Prinzessin war der Kapitän, ihr Gehilfe ein alter Kapitän und die Sklaven und Sklavinnen in ihrer Begleitung wurden als Soldaten gebraucht und von ihr befehligt. Eines Tages kamen sie nach Jemen. Sie lief in den Hafen ein, ging dort vor Anker und blieb jene Nacht dort.
Der dortige Aufsichtsbeamte hörte davon und kam es sich anzusehen. Als er es sah, sagte er: „Wer ist das wohl? Solch ein Schiff habe ich in meinem Leben nicht gesehen, Allah möge es vor dem bösen Blick bewahren!“ Dann ging er sofort zum Schloß und machte Meldung: „Mein Padischah, [11]gestern ist ein Schiff angekommen, das unbeschreibbar ist. Reiner Diamant und Juwelen! Es lohnt sich, es einmal anzusehen.“ Da schickte der Schah seinen Lala3 und sagte: „Forsche nach und komme wieder mit der Nachricht, wer es ist.“
Dann bestieg sein Adjutant eine Schaluppe und fuhr nach dem Diamantschiff. Als nun die Prinzessin sah, daß der Adjutant kam, kleidete sie ihre Mannschaft vom Kopf bis zu den Füßen in rote Kleider. Als endlich die Schaluppe sich der Landungstreppe näherte, ging die gesamte Mannschaft ihm entgegen und führte ihn nach oben geradeswegs zur Kabine des Kapitäns. Er setzte sich auf einen Stuhl und wurde freundlich begrüßt. Er sagte: „Aber mein Bej, ich möchte noch gern länger bleiben, aber der Schah erwartet mich, ich bin gekommen, um Kunde einzuholen. Wenn Sie mir Ihren schönen Namen sagen würden, würde ich den Padischah benachrichtigen.“
Der Kapitän sagte: „Ich bin ein Kaufmannssohn und bin auf die Reise gegangen, um mich zu vergnügen.“ Da ging er dann zum Padischah und sagte: „Padischah, das angekommene Schiff ist ein Handelsschiff, sein Kapitän ist ein junger Mann ohne Schnurr- und Backenbart, schön wie ein Mond am Vierzehnten. Seine Mannschaft ist ihm ganz entsprechend. Ja, mein Herr, es lohnt sich wirklich, es einmal anzusehen.“ Der Padischah bekam Lust und wünschte hinzugehen. Dann bestieg er eine Schaluppe mit sieben Doppelrudern und ging mit seinem ganzen Hofstaat auf das Schiff.
Als der Kapitän sah, daß der Herrscher kam, ließ er die ganze Mannschaft gelbe Kleider anziehen. Als der König sich der Landungstreppe näherte, gingen sie ihm alle entgegen und führten ihn nach oben. Als er in die Kabine des Kapitäns kam, empfingen sie ihn mit Ehren und bewirteten ihn mit Kaffee und Tabak. Der Padischah war erstaunt. Danach brach er wieder auf und ging in sein Schloß.[12]
Als der Prinz das hörte, verstand er sofort die Sache. Dann bestieg er eine Schaluppe und fuhr nach jenem Schiffe.
Wir wollen jetzt wieder zum Kapitän kommen. Wie das vorige Mal, ließ er die ganze Mannschaft grüne Gewänder anziehen. Jetzt legte der Prinz an dem Schiffe an. Sie gingen ihm alle mit Ehrerbietung entgegen. Schließlich kam er in die Kabine des Kapitäns und verweilte dort. Jetzt fragte der Prinz den Kapitän eingehend nach allem. Der Kapitän gab sich nicht zu erkennen. Der Prinz verliebte sich in den Kapitän und konnte sein Auge nicht von seinem Auge trennen. Als es schließlich Abend wurde, mußte der Prinz wohl oder übel aufstehen und in sein Schloß fahren.
Wir wollen uns nun wieder zum Kapitän wenden. Er schickte zu dem Aufsichtsbeamten der dortigen Gegend. Unter seiner Vermittlung legten sie das Schiff ins Dock. Vor dem Schloß war ein großer Palast. Den mieteten sie und ließen es sich gut gehen. Wir wollen uns jetzt zum Prinzen wenden. Am nächsten Morgen, als es Tag wurde, kam er an die Stelle, wo das Schiff gewesen war, und sieht, daß keine Spur davon da ist. „Ach, Gott“, sagte er, und schlug mit seinem Kopf auf den Boden. Er kam zu seinem Lala und fragte ihn. Der Lala erklärte ihm alles, eins nach dem anderen, und das Herz des Prinzen wurde wieder froh. Dann ging er ins Schloß. Als er vom Gartenhaus in das Fenster des erwähnten Palastes sah, fällt sein Blick auf das Mädchen. Der Prinz wurde verwirrt. Wer ist das wohl? Sollte es die Frau des Kapitäns sein? vermutete er bei sich. Es war eine Schönheit, die in der Welt nicht ihresgleichen hatte; die Locken waren nach beiden Seiten gescheitelt.
Als jetzt das Mädchen auch den Prinzen sah, schloß sie das Fenster und zog sich ins Innere zurück. Da verliebte sich der Prinz von neuem in sie, und indem er den Palast von allen vier Seiten umging, sagte er: „Ach, ob ich wohl noch einmal diese Schöne wieder sehen kann?“ Als es schließlich Nacht wurde, zog er sich in sein Zimmer zurück und weinte.[13]
Am nächsten Morgen kam er in das Gartenhaus und sieht, daß niemand am Fenster ist. Als er es nicht mehr aushalten konnte, ging er zu seiner Mutter und sagte: „Ach, Mutter, in diesem Palaste uns gegenüber wohnt die Frau des Kapitäns, ich habe sie am Fenster gesehen und mich in sie verliebt, nimm diese diamantbesetzten Holzschuhe und bringe sie ihr als Geschenk. Ich möchte noch einmal ihr Gesicht sehen, sonst bringe ich mich um.“ Die Mutter stand wohl oder übel auf und ging sofort zum Palast des Kapitäns. Nachdem sie eingetreten und gegrüßt hatte, gab sie die genannten Holzschuhe dem Mädchen. Das Mädchen nahm auch die Schuhe und gab sie den Sklavinnen in der Küche. Die arme Dame wunderte sich und sagte zu dem Mädchen: „Meine Prinzessin, der Prinz grüßt Sie besonders und wünscht Ihr gesegnetes Gesicht zu sehen, aber wie denken Sie darüber?“ Das Mädchen gab keine Antwort. Nachdem sie noch einige Zeit gesessen, ging sie in das Schloß und sagte zornig zum Prinzen: „Ich habe jenem Mädchen die Schuhe gegeben. Sie nahm sie und gab sie den Sklavinnen in der Küche. Ich war sehr ärgerlich, und obgleich ich ihr deine Sache auseinandergesetzt habe, gab sie überhaupt keine Antwort. Dann stand ich auf und ging hierher. Wenn dein Kummer auch noch so groß ist, so mußt du dich damit abfinden.“
Jetzt ging der Prinz wieder in ein Zimmer und weinte bis zum Morgen. Dann ging er zu seiner Mutter, küßte ihr die Hand und sagte: „Ach, liebe Mutter, nur du kannst helfen, denke über ein Mittel nach.“
Die Dame hatte eine sehr kostbare Perlenkette. Die kam ihr ins Gedächtnis. Sie sagte: „Ich habe im Kasten eine Perlenhalskette, ein Familienerbstück. Dir zu Liebe werde ich sie ihr geben. Wollen einmal sehen, was sie tut.“ Der Prinz war erfreut und küßte wieder seiner Mutter die Hände.
Die Dame ging vom Schloß in den Palast des Mädchens. Nachdem sie eingetreten, bestellte sie den Gruß des Prinzen und gab jene Perlen dem Mädchen.[14]
Das Mädchen hatte einen Papagei, der in einem Käfig an der Decke hing. Sie nahm die Perlen der Dame und gab sie anstatt Futter dem an der Decke hängenden Papagei. Das Tier fraß sie auf, indem es sie zerknackte. Da öffnete die Dame ihren Mund vor Erstaunen und sagte zu sich: „Sieh, der Papagei dieses Frauenzimmers frißt Perlen statt Futter.“
Dann stand die Dame auf und ging ins Schloß. Als der Prinz eiligst seine Mutter fragte: „Was hast du erreicht?“, sagte sie: „Ach, mein Sohn, ich habe die Perlen dem Mädchen gegeben. Sie nahm sie auch und hat sie einem an der Decke hängenden Papagei statt Futter gegeben. Das Tier hat sie auch vor meinen Augen aufgefressen. Als ich das sah, wurde ich traurig. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich weiß nicht, wie das mit uns wird.“
Der Prinz sagte zu seiner Mutter: „Es ist Dummheit von ihr, trag es ihr nicht nach.“ Auch in dieser Nacht schlief der Prinz bis zum Morgen nicht und weinte. Am Morgen ging er wieder zu seiner Mutter und sagte: „Ach, liebe Mutter, ich habe einen Koran, den bringe ihr. Vielleicht hat sie diesmal aus Ehrfurcht vor ihm Mitleid mit mir und handelt billig.“ Kurz, er überredete seine Mutter und schickte sie wieder hin.
Die Dame geht wieder bei Gelegenheit in den Palast. Die Prinzessin kommt herunter, geht ihr mit Ehrfurcht entgegen und holt sie nach oben. Die Dame war erstaunt. Schließlich holt sie von ihrer Brust den Koran heraus und gibt ihn dem Mädchen. Das Mädchen nimmt ihn auch artig, küßt ihn dreimal und legt ihn auf das Bücherbrett. Die Dame sagt zu ihr: „Mein Kind, der Prinz weint Tag und Nacht andauernd, schließlich wird er sich töten. Ach, mein Kind, da kannst nur du helfen. Zeige dem Prinzen doch nur einmal dein Gesicht, damit er dich sehen kann und für einige Zeit Freude hat.“ Darauf antwortet das Mädchen: „Mutter, ich zeige mich nicht für etwas Geringes.“ Die Dame sagte: „Ach, mein Kind, wir wollen tun, [15]was du verlangst.“ Darauf antwortete das Mädchen: „Mutter, ich will es dir geradeaus sagen, laß jetzt eine goldene Brücke machen, schmücke sie rings herum mit echten Rosen. Der Prinz soll dann an dem einen Ende sein Lager machen und sich dort hineinlegen, dann werde ich dorthin gehen, und dort mag er mich sehen.“
Danach stand die Dame auf und ging ins Schloß. Der Prinz fragte: „Ach, Mutter, was hast du erreicht?“ Sie sagte: „Mein Sohn, jenes Mädchen antwortete sehr bestimmt: ‚Eine goldene Brücke sollst du machen und rings herum mit echten Rosen schmücken, und der Prinz soll an dem einen Ende sein Lager bereiten und mich erwarten. Ich werde dorthin kommen und er kann mich sehen.‘ Wenn du das vermagst, laß es machen.“
Kurz, der Prinz ließ eine Brücke, wie das Mädchen sie beschrieben hatte, machen und schmückte sie ringsherum mit Rosen. Der Prinz machte an dem einen Ende der Brücke sein Lager und verweilte dort. Man schickte dem Mädchen Nachricht. Jetzt schmückte sich das Mädchen und ging mit seinem Gefolge zur Brücke. Als sie über die Brücke ging, stach sie sich an einem Rosendorn. Da rief sie: „Ach, mein Gesicht!“ und kehrte wieder in ihren Palast zurück. Der Prinz schaut aus und sagt: „Sie kommt, ich werde sie sehen.“ Als er sieht, daß das Mädchen umkehrt und weggeht, sagt er zu seiner Mutter: „Ach, Mutter, ich habe sie nicht sehen können.“ Die Dame geht sofort in das Haus des Mädchens und sagt zu ihr: „Meine Tochter, warum bist du nicht zum Prinzen gegangen?“ Das Mädchen antwortete: „Mutter, ein Rosendorn hat mir das Gesicht zerstochen, nun könnt ihr die Brücke und auch den Prinzen behalten.“
Die Dame sagte: „Meine Tochter, was sollen wir tun? Du hast in allem eine List.“ Da antwortete das Mädchen: „Mutter, ich will dir die Wahrheit sagen. Jetzt laß eine goldene Brücke machen, stelle auf der einen Seite einen goldenen und auf der anderen einen silbernen Leuchter auf. [16]Danach soll der Prinz sterben und ihr sollt ihm auf dem anderen Ende der Brücke sein Grab graben und ihn hineinlegen, dann will ich kommen und ihm zu Häupten ruhen. Da kann er mich nach Herzenslust ansehen.“
Die Dame stand zornig auf, ging ins Schloß und sagte: „Mein Sohn, ein Dorn hat das Mädchen ins Gesicht gestochen, darauf ist sie umgekehrt und in ihr Schloß gegangen.“ Als er fragte: „Was sollen wir jetzt tun?“, sagte sie: „Mein Sohn, das Mädchen gab ihre letzte Antwort. So wie das vorige Mal sollst du eine goldene Brücke machen lassen und auf beiden Seiten einen goldenen und einen silbernen Leuchter stellen. ‚Danach soll der Prinz sterben und auf dem einen Ende der Brücke soll man sein Grab machen, und dann mag er mich darin erwarten. Ich werde dann kommen und ihm zu Häupten verweilen. Dann mag er mich nach Herzenslust ansehen.‘ So antwortete sie.“
Der Prinz sagte: „Mutter, ich werde vor den Augen der Welt sterben, ins Grab gehen und sie erwarten. Wollen sehen, was sie diesmal für Listen hat.“ Das beschlossen sie.
Am folgenden Tage stellten sie auf der einen Seite der Brücke einen goldenen Leuchter und auf der anderen Seite einen silbernen auf, der Prinz ging ins Grab. Das Mädchen beobachtete alles.
Wir wenden uns nun wieder zu dem Mädchen. In jener Nacht ließ sie das Schiff aus dem Dock ziehen und alles, was an Möbeln in dem Palast war, mit den Sklavinnen auf das Schiff bringen. Als alles fertig war, ging das Mädchen zur Brücke zu dem Grabe, wo der Prinz war, und sagte: „Da ist ein Schiff und da ist günstiger Wind nach Stambul.“ Dann bestieg sie das Schiff und fuhr ab.
Der Prinz stand sofort auf und sieht, daß das Schiff unverzüglich abfährt. Der Prinz erhob ein Geschrei und ging sofort zu seiner Mutter: „Ach, Mutter, was ich getan habe, habe ich mir selber zuzuschreiben. Die Schuld liegt an mir.“ Da verstand er die Handlungsweise des Mädchens. Er ging zu seinem Vater, küßte ihm die Hand und sagte: [17]„Lieber Vater, gib mir die Erlaubnis, ich möchte ins Ausland gehen!“ Der sagte: „Sehr schön, mein Sohn!“ und gab ihm die Erlaubnis. Dann küßte er auch die Hand seiner Mutter und sagte: „Mutter, mir ist ein Ausweg erschienen, ich muß gehen.“ Er erhielt von seiner Mutter die Erlaubnis, ging aus dem Schloß, bestieg ein Schiff und machte sich auf den Weg. Nachdem er das Schiff verlassen, betrat er den erwähnten Palast. Die Prinzessin ging ihm mit ihren Sklavinnen entgegen. Sie führten ihn nach oben. Er sagte zu ihr: „Meine Prinzessin, ist es nicht schade um mich, daß du mir soviel angetan hast?“ Das Mädchen erwiderte: „Mein Prinz, du vergißt, was du mir angetan hast. Du bist mit dem Schiff angekommen, hast mich in Feuer gesetzt. War es da vor Gott zu verantworten, daß du wieder gingst?“ Da sagte er: „Ach, meine Prinzessin, verzeih’ mir mein Vergehen, trage es mir nicht nach! Die Schuld liegt an mir.“ Da umarmten sie sich und die beiden Verliebten erreichten glücklich ihre Absicht.