Schon war der letzte Sommermonat, der warme August da. Auf allen Bäumen glänzten die Äpfel rotgolden und kündeten den Herbst an. Der Vetter hatte nie wieder etwas von sich hören lassen. In der alten Käthe stieg manchmal die freudige Hoffnung auf, er habe sein Vorhaben geändert und denke nicht mehr an das Kind. Dann wurde es ihr so leicht ums Herz, als seien ihr alle Sorgen abgenommen, als könnte sonst kommen, was da wollte. Hunger und Mangel und Entbehrung aller Art werde sie ertragen, wenn sie nur das Kind nicht weggeben müßte. Das Trini war fröhlich wie ein Vogel vom Morgen bis zum Abend, es hatte den Vetter und seinen Wunsch schon lange vergessen.
Da trat eines Morgens ein junger Bursch bei der Waschkäthe ein und sagte, er komme aus dem Reußtal und habe ihrem Vetter versprochen, ihr eine Bestellung auszurichten. Der Vetter lasse ihr sagen, sie solle die Kleider und alles für das Kind bereithalten, er hole es ab, sobald er wegen seines Geschäfts über den Berg müsse. Mit dem Vormund des Kindes wolle er dann schon alles in Ordnung bringen, was die Schule und den Lohn und das übrige betreffe. Der Großmutter wurde es vor Schrecken ganz schwarz vor den Augen, sie mußte sich schnell setzen, um sich nur wieder ein wenig zu fassen. So war denn plötzlich gekommen, was sie freilich immer im stillen befürchtet, aber doch immer in so weiter, unsicherer Ferne gesehen hatte. Nun war es da, denn daß der Vormund gleich einwilligen und dem Vetter das Kind übergeben würde, dessen war sie sicher. Sie konnte ja für keinen Verdienst sorgen. Sie wußte nicht einmal, wie lange sie sich selbst noch durchbringen konnte. Vielleicht fielen sie beide der Gemeinde zur Last. Der Vetter aber konnte einen so guten Verdienst in Aussicht stellen und für die Versorgung des Kindes für alle Zukunft garantieren. Es mußte sein, das sah sie deutlich vor sich. Die alte Käthe hatte schon viel Schweres erlebt. Aber das Weggeben dieses Kindes, das ihre ganze Freude und Stütze war, kam ihr vor, als wolle man ihr eines ihrer Glieder abreißen, ohne das sie nicht mehr fortleben könnte.
Sie überdachte nun, wie sie dem Kind die Sache beibringen sollte. Aber wenn sie sich vorstellte, in welchen Jammer es das erstemal ausgebrochen war, als sie darüber geredet hatte, so hatte sie nicht den Mut, es wieder und nun mit Bestimmtheit zu tun. Zuletzt dachte sie, das beste sei, gar nicht über die Sache zu reden. Ein kurzer Kampf, wenn der Vetter komme, sei noch am leichtesten zu ertragen. Und inzwischen habe das Kind doch noch ungetrübte Tage. Aber von dem Morgen an lag ein solcher Kummer auf dem Gesicht der Großmutter, daß es dem Trini manchmal ganz bange wurde und es immer wieder fragte: “Großmutter, was hast du denn? Ich will alle Nächte durch Brombeeren suchen, wenn du dich sorgst, wir können nicht mehr leben, weil du nicht mehr so viel tun kannst. Ich brauche nicht zu schlafen, ich kann es schon aushalten, sieh nur, sieh!” Und das Trini streckte seine zwei festen Arme der Großmutter als Beweis entgegen, daß sie sich nicht zu sorgen brauche. Aber es vermehrte nur ihren Kummer. Denn sie sah ja nur zu gut, wie groß und stark das Kind geworden und daß es wirklich zu einer ganz anderen Arbeit fähig war als zu der, die es jetzt verrichtete. Doch am Abend, wenn sie wieder still in der Dämmerung saß und auf alle vergangenen Zeiten und auf so manche schwere Not zurückschaute, aus der ihr der liebe Gott so väterlich geholfen hatte, dann konnte sie mit Vertrauen sagen:
“Drum, meine Seele, sei du still
Zu Gott, wie sich’s gebühret.”
So saß sie wieder am Fenster, wo noch der Abendschein hereinschimmerte, und wartete auf das Kind, um dann Licht zu machen und das Abendessen zu bereiten. Da hörte sie jemand auf ihr Häuschen zukommen. Das war nicht das Kind, es waren schwere, feste Tritte. Jetzt kam’s—es mußte der Vetter sein. Der Großmutter wollte das Herz stillstehen. Nun ging die Tür auf, und mit festem Schritt, einen großen Korb am Arm, trat die Goldäpfelbäuerin herein und fragte: “Wo sind Sie denn, Käthe? Man kann Sie ja gar nicht sehen. Guten Abend wünsch’ ich Ihnen!” Die Alte war schnell aufgestanden, hatte ihr Lichtlein angezündet und schüttelte jetzt ihrem Besuch die Hand. Auf dem Tisch stand nun der Korb, und im Schimmer des kleinen Lichts glänzten viele herrliche Goldäpfel, von denen der ganze Hof seinen Namen hatte. “Ich habe Ihnen ein wenig Äpfel gebracht, die Bäume haben dies Jahr schön getragen”, sagte die Bäuerin wieder, “was Sie nicht selbst brauchen, wird das Kind nehmen, wo ist es?”
Die Käthe berichtete, Trini sei mit den anderen Kindern noch einmal in die Brombeeren zum Wald hinauf gegangen, es werde aber nun mit dem Beerenlesen bald ein Ende haben. “Das wird’s”, bestätigte die Bäuerin. “Es ist mir aber gerade recht, daß das Kind weg ist, ich möchte noch etwas mit Ihnen reden.” Die Käthe holte ihre Stühle herbei, und als die beiden nun voreinander am Tisch saßen, der große Apfelkorb zwischen ihnen, fing die Bäuerin wieder an: “Ich habe da vor kurzem etwas mit Ihrem Kind gehabt, es wird Ihnen wohl davon erzählt haben. Ich war ein wenig in Zorn geraten, denn die junge Magd hatte mir das ganze Kohlrübenbeet verdorben und war dazu noch unverschämt. So sind sie heutzutage. Und sagt man ihnen ein einziges Wort, das sie nicht gern hören, gleich werfen sie einem den Sack vor die Tür, und es heißt: Suchen Sie sich eine andere Magd. Aber immer mit neuen Leuten wirtschaften, ist keine Freude. Ich war also sehr ärgerlich, als das Kind ankam, und ich habe es beschimpft. Da hörte ich aber etwas, das hat mir gefallen, ich mußte zu mir sagen: Die alte Käthe hat das Kind etwas Gutes gelehrt. Mit einem Mädchen, das so denkt, mußte gut auszukommen sein. Und als ich mir alles so recht überdacht hatte, faßte ich einen Entschluß. Darüber möchte ich jetzt mit Ihnen reden.
“Das Kind ist freilich noch jung, aber es ist groß und stark, und gelehrig sieht es auch aus. Die paar Schulmonate bis zum Frühling haben auch nicht mehr viel zu sagen, und so dachte ich, wenn es Ihnen recht wäre, wollte ich das Kind zu mir nehmen. Den Winter über hätte ich Zeit, es einzuarbeiten, und bis zum nächsten Sommer würde es eine ordentliche Magd für mich. Sie müssen sich aber nicht sorgen, Käthe. Ich weiß schon, daß jetzt die Zeit da ist, da das Kind anfangen muß, für Sie zu arbeiten und etwas Ordentliches zu verdienen. Ich gebe ihm gleich den ganzen Lohn, den die Mägde hatten, und jede Woche noch ein Brot dazu, denn das Kind ist mir das wert. Dazu haben Sie den Vorteil, daß es Ihnen nicht genommen wird. Es ist flink, es kann, wenn Feierabend ist, heim zu Ihnen. Und am Morgen schickt ihr mir’s wieder. Am Sonntag darf es schon vom Mittag an bei Ihnen bleiben. Warum fangen Sie denn an zu weinen, Käthe? Das Kind soll es gut haben bei mir, und Sie sollen auch nicht zu kurz kommen. Korn und Obst habe ich auf dem Hof und Milch im Stall. Ein Säcklein Mehl und eine Flasche Milch soll das Kind jeden Sonntag auch heimbringen, und außerdem gibt es das Jahr hindurch noch manches andere, da können Sie sicher sein.”
“Sagt nur nichts mehr, es ist ja mehr als genug”, konnte hier endlich die alte Käthe hervorbringen, “ich weine ja nur vor Freude, vor lauter Freude. Sie wissen ja nicht, von welchem Kummer Sie mich befreit haben, und welche Wohltat Sie an mir tun.”
Und nun erzählte die Alte der Bäuerin, wie sie sich schon den ganzen Sommer über gesorgt hätte und nun jeden Augenblick den Vetter erwarte. Das habe sie dem Kind gar nicht sagen dürfen, weil sie sich vor seinem großen Jammer fürchtete. Eben als die Großmutter fertig erzählt hatte, kam das Trini hereingesprungen. Beim Anblick der goldenen Äpfel auf dem Tisch und der Bäuerin, die daran saß, stand es plötzlich still und schaute mit größter Verwunderung um sich.
“Komm, gib mir die Hand, Trini”, sagte die Bäuerin. “Da du meine Bäume nie geschüttelt hast, mußt du mit der Großmutter ein paar Äpfel davon haben.”
Über Trinis Gesicht ging ein freudiges Lächeln. So hatte es die Bäuerin doch noch vernommen, daß es das nicht getan hatte, das erfreute sein Herz. Es kam eilig herbei, der Frau die Hand zu reichen. “Was meinst du?” fuhr die Bäuerin fort, “wie gefiele es dir bei mir auf dem Hof, wolltest du brav mit mir arbeiten?”
Das Trini schaute immer verwunderter einmal auf die Bäuerin und dann wieder auf die Großmutter. Diese konnte nicht mehr schweigen in ihrer Freude: “Trineli, denk nur, denk nur, wie es jetzt kommt”, rief sie aus, “du kommst nicht ins Reußtal, du sollst nicht von mir fort. Jeden Tag darfst du zu der guten Frau hinunter auf den Goldäpfelhof und am Abend wieder heim. Ach, was ist das für eine Erlösung aus der großen Sorge. Dank ihr, Trineli, dank ihr!”
“So danke ich vielmals. Und ich will gern arbeiten bei Ihnen, was Sie nur wollen”, sagte das Trini, das erst jetzt das Angebot der Bäuerin zu würdigen wußte.
“So ist’s recht”, schloß die Bäuerin, “die Sache ist abgemacht. Das Beerenlesen hat jetzt ein Ende, und das Apfel- und Birnenlesen fängt an. Das ist gerade die rechte Zeit, um bei mir mit der Arbeit anzufangen. Am Montag schicken Sie mir das Kind, Käthe, und geben ihm Ihren Segen mit. Und nun auf Wiedersehen.”
Sobald die Tür sich hinter der Bäuerin schloß, fing die Großmutter an, laut zu loben und zu danken, daß der liebe Gott alle ihre Sorge in solche Freude und Hilfe verwandelt hatte. Das Trini jauchzte laut auf: “Juchhe, nun muß ich nie von dir fort, Großmutter! Ich will schon tüchtig arbeiten, dann behält mich gewiß die Bäuerin ihr Leben lang.”
Jetzt mußte es aber die goldenen Äpfel noch aus der Nähe betrachten. Auf einmal sagte es: “Großmutter, darf ich nicht dem Maneli noch geschwind die Hälfte bringen? Ich habe jetzt immer mit ihm geteilt.”
“Ja, ja”, nickte beifällig die Alte, das war ihr gerade recht, daß auch der armen Nachbarin etwas von ihrem großen Glück zugute komme. “Lauf nur gleich, Trineli, und nimm auch mehr als die Hälfte. Es sind so viele, die sich an den Äpfeln freuen werden, geh schnell!”
Trini stürzte fort, und ein ungeheures Freudengeschrei brach bei der Kinderschar aus, als es die Äpfel auf den Tisch hinschüttete. Sie rollten da und dorthin und der süße Apfelduft durchströmte die ganze Stube.
Am Montag, als das Trini unter den Bäumen des Goldäpfelhofes schon eifrig bei seiner Arbeit war, trat der Vetter bei der alten Käthe ein. Jetzt hatte sie keinen Schrecken mehr. Sie sagte ihm, wo das Kind bei der Arbeit sei und daß es dort bleiben werde. Aber so schnell ließ sich der Vetter nicht von seinem Plan abbringen, denn er hatte fest vor, das Kind mitzunehmen. Er lief gleich zum Vormund und sagte ihm, daß das Kind in der Fabrik viel mehr verdienen könne als bei der Bäuerin. Aber der Vormund lächelte nur schlau, denn die Goldäpfelbäuerin war auch bei ihm gewesen. Sie wußte schon, was sie zu tun hatte, wenn sie das Kind behalten wollte. Er sagte, wenn das Kind fort sei, sorge niemand für die alte Frau. Solange es aber bei der Bäuerin sei, wären sie beide versorgt und könnten ohne fremde Hilfe gut leben. Und so sei beschlossen worden, daß das Kind bei der Bäuerin bleibe.
Dem Trini geht es mit jedem Tag besser auf dem Goldäpfelhof. Jetzt kennt es schon alle Arbeit, und die Bäuerin mag das flinke, immer frohe Trini so gern, als wäre es ihr eigenes Kind. Die Großmutter sorgt auch dafür, daß das Kind nie vergaß, wer zu ihm redet, wenn es ertragen soll, was weh tut. Denn sie weiß wohl, wie es zu dem guten Platz bei der Bäuerin gekommen ist.