Nicht lange nach diesem für Abner schmerzlichen Ereignis ging er wieder einmal in einem der grünen Täler zwischen den Vorbergen des Atlas spazieren. Da wurde er, gerade wie damals, von einem einherstürmenden Haufen Gewaffneter eingeholt, und der Anführer schrie ihn an:
"He, guter Freund, hast du nicht Goro, den schwarzen Leibschützen des Kaisers, vorbeilaufen sehen? Er ist entflohen, er muß diesen Weg genommen haben ins Gebirg."
"Kann nicht dienen, Herr General", antwortete Abner.
"Ach, bist du nicht der pfiffige Jude, der den Fuchsen und den Hund nicht gesehen hat? Mach nur keine Umstände; hier muß der Sklave vorbeigekommen sein; riechst du vielleicht noch den Duft seines Schweißes in der Luft? Siehst du noch die Spuren seines flüchtigen Fußes im hohen Grase? Sprich, der Sklave muß herbei; er ist einzig im Sperlingsschießen mit dem Blaserohr, und dies ist Seiner Majestät Lieblingszeitvertreib. Sprich! Oder ich lasse dich sogleich krumm fesseln!"
"Kann ich doch nicht sagen, ich habe gesehen, was ich doch nicht hab' gesehen."
"Jude, zum letzten Male: Wohin ist der Sklave gelaufen? Denk an deine Fußsohlen, denk an deine Zechinen!"
"O weh geschrien! Nun, wenn Ihr absolut haben wollt, daß ich soll gesehen haben den Sperlingsschützen, so lauft dorthin; ist er dort nicht, so ist er anderswo."
"Du hast ihn also gesehen?" brüllte ihn der Soldat an. "Ja denn,
Herr Offizier, weil Ihr es so haben wollt."
Die Soldaten verfolgten eilig die angewiesene Richtung. Abner aber ging, innerlich über seine List zufrieden, nach Hause. Kaum aber war er vierundzwanzig Stunden älter geworden, so drang ein Haufe von der Wache des Palastes in sein Haus und verunreinigte es, denn es war Sabbat, und schleppte ihn vor das Angesicht des Kaisers von Marokko.
"Hund von einem Juden", schnaubte ihn der Kaiser an, "du wagst es, kaiserliche Bedienstete, die einen flüchtigen Sklaven verfolgen, auf falsche Spur ins Gebirge zu schicken, während der Flüchtling der Meeresküste zueilt und beinahe auf einem spanischen Schiffe entkommen wäre? Greift ihn, Soldaten! Hundert auf die Sohlen! Hundert Zechinen aus dem Beutel! Um wieviel die Sohlen schwellen unter den Hieben, um soviel soll der Beutel einschnurren."
Du weißt es, o Herr, im Reiche Fez und Marokko liebt man schnelle Gerechtigkeit, und so wurde der arme Abner geprügelt und besteuert, ohne daß man ihn zuvor um seine Einwilligung befragt hätte. Er aber verfluchte sein Geschick, das ihn dazu verdammte, daß seine Sohlen und sein Beutel es hart empfinden sollten, so oft Seine Majestät geruhten, etwas zu verlieren. Als er aber brummend und seufzend unter dem Gelächter des rohen Hofvolks aus dem Saale hinkte, sprach zu ihm Schnuri, der Spaßmacher: "Gib dich zufrieden, Abner, undankbarer Abner! Ist es nicht Ehre genug für dich, daß jeder Verlust, den unser gnädiger Kaiser, den Gott erhalte, erleidet, auch dir empfindlichen Kummer verursachen muß? Versprichst du mir aber ein gut Trinkgeld, so komme ich jedesmal, eine Stunde bevor der Herr des Westens etwas verliert, an deine Bude in der Judengasse und spreche: Gehe nicht aus deiner Hütte, Abner, du weißt schon warum; schließe dich ein in dein Kämmerlein bis zu Sonnenuntergang, beides unter Schloß und Riegel."
Dies, o Herr, ist die Geschichte von Abner, der nichts gesehen hat.
Als der Sklave geendet hatte und es wieder stille im Saale geworden war, erinnerte der junge Schreiber den Alten, daß sie den Faden ihrer Unterhaltung abgebrochen hatten, und bat, ihnen zu erklären, worin denn eigentlich der mächtige Reiz des Märchens liege.
"Das will ich Euch jetzt sagen", erwiderte der Alte. "Der menschliche Geist ist noch leichter und beweglicher als das Wasser, das doch in alle Formen sich schmiegt und nach und nach auch die dichtesten Gegenstände durchdringt. Er ist leicht und frei wie die Luft und wird wie diese, je höher er sich von der Erde hebt, desto leichter und reiner. Daher ist ein Drang in jedem Menschen, sich hinauf über das Gewöhnliche zu erheben und sich in höheren Räumen leichter und freier zu bewegen, sei es auch nur in Träumen. Ihr selbst, mein junger Freund, sagtet: Wir lebten in jenen Geschichten, wir dachten und fühlten mit jenen Menschen, und daher kommt der Reiz, den sie für Euch hatten. Indem Ihr den Erzählungen des Sklaven zuhöret, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt Ihr selbst auch mitgedichtet. Ihr bliebet nicht stehen bei den Gegenständen um Euch her, bei Euren gewöhnlichen Gedanken, nein, Ihr erlebtet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes Wunderbare begegnete, so sehr nahmet Ihr teil an dem Manne, von dem man Euch erzählte. So erhob sich Euer Geist am Faden einer solchen Geschichte über die Gegenwart, die Euch nicht so schön, nicht so anziehend dünkte; so bewegte sich dieser Geist in fremden, höheren Räumen freier und ungebundener, das Märchen wurde Euch zur Wirklichkeit, oder, wenn Ihr lieber wollet, die Wirklichkeit wurde zum Märchen, weil Euer Dichten und Sein im Märchen lebte."