Ein paar Tage lang besuchten wir regelmäßig Ururgroßvaters Grab und schmückten es mit Blumen. Auch mußte die Inschrift zweimal erneuert werden. Das eine Mal hatte sie der Regen zerstört, das andere Mal war sie den Buben in die Hände gefallen.
Diese schrecklichen Buben! Wie viel schöner wäre die Welt gewesen ohne sie! Wenn man mit den Puppen spazieren ging, äfften sie die Unterhaltung nach oder versuchten einen Überfall auf die Kinder. Wenn man im Bodenkammerzimmer eine Einladung an sie ergehen ließ, aßen und tranken sie all das mühsam Gekochte im Augenblick weg, und statt des Dankes brummten sie über »das bißchen Zeug«.
Nur bei den Ball- und Springspielen, hauptsächlich bei dem unvergleichlichen »Pflumeboppi, 's Hüsli brennt!« gingen wir Mädel und Buben gemeinsame Wege. Ja, und dann noch bei einem ganz besonderen Anlaß.
Unsere Vaterstadt feierte die 400jährige Wiederkehr des Tages, an dem sich die beiden, durch den Strom getrennten Stadthälften zusammengeschlossen hatten, mit der Aufführung eines historischen, eigens für die Gelegenheit verfaßten Festspiels.
Weit draußen vor der Stadt war die Bühne errichtet worden. Am zweiten Tag — die Stadt schwelgte eine halbe Woche lang in ihren Erinnerungen — waren bei der Vorstellung sämtliche Schulkinder zugegen.
Das war ein Ereignis, vor dem alles andere, das sonst unser Leben ausfüllte, zurücktreten mußte. Während der Vorstellung saßen wir getrennt, aber auf dem Nachhauseweg fanden wir uns zusammen und konnten das Geschaute besprechen.
Anni schwärmte besonders für den König Rudolf. Wie er sich hielt, wie er sich neigte! Sie streckte ihren schwarzen Wuschelkopf und die kurze Stumpfnase höher in die Luft, als erwerbe sie sich dadurch etwas von der königlichen Würde.
Gretchen war entzückt von all den holdseligen Frauengestalten, auch von den Kindern, die so niedliche, lange Kleider trugen. »Ich wollte, wir hätten auch welche!« meinte sie seufzend. »Unsere kurzen Röcke und Socken sehen gar nicht schön aus.«
Damit war ich jedoch nicht einverstanden.
»Denk dir doch, wie unangenehm die dummen, langen Kleider beim Springen wären! Der ‘Pflumeboppi’ z. B. fiele alle Augenblicke auf die Nase.«
»Ja, das ist wahr!« stimmte mir Anni zu. »Wer hat denn dir am besten gefallen, Mixi? — Seht, nun wird sie schon wieder ganz rot!«
»Gar nicht!« wehrte ich ab, obwohl ich die Glut bis unter die Haarwurzeln steigen fühlte.
»Ihr werdet natürlich lachen, aber das ist mir einerlei. Mir hat der Priester am besten gefallen.«
»Der alte, heidnische Kerl!« Anni war entrüstet. Das gutmütige Gretchen, wohl um mir wieder zu meiner natürlichen Gesichtsfarbe zu verhelfen, meinte tröstlich: »Sie hatten ihn, glaube ich, alle sehr gern.«
»Ja, und hörtest du nicht, wie sie alle so jammervoll aufschrieen, als er sich den Dolch ins Herz stieß?«
»Du tust gerade, wie wenn er es richtig getan hätte, Mixi! Du brauchst gar keine so fürchterlichen Augen zu machen, es ist ja doch alles nicht wahr.«
Ich duckte mich und schwieg. Da war wieder das Wort, das ich am meisten fürchtete und haßte — — es ist nicht wahr.
Wozu hatte man denn all die seltsamen Gedanken und Träume, die einen halb froh, halb traurig stimmten, wenn alles nicht wahr sein sollte!
Freilich, das auf der Bühne war vielleicht nicht wahr gewesen. Das waren ja alles gewöhnliche Menschenkinder. Unter den langlockigen Pagen hatte ich einen Knaben entdeckt, von dem ich genau wußte, daß er in Wirklichkeit einen struppigen roten Haarschopf besitze. Aber wozu daran denken? Das ließ sich alles so hübsch beiseite schieben. Das gehörte in die Welt, die Schule, Aufgaben, Stricken und Gemüse-essen hieß.