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Hansi-4
日期:2023-08-09 10:47  点击:229
Die alte Bodenkammer
 
Wohl jeder trägt in sich verborgen die Erinnerung an einen Ort, über dem der Stern der Kindheit mit besonders hellem Glanze leuchtet.
 
Vielleicht ist es ein Garten, ein weltfremder, drin prunkende Pfingstrosen und hohe Malvenstauden stehen; oder ein trauliches Zimmerchen mit herabgelassenen Vorhängen, und man sieht sich selbst klein und schmal an Mutters Knie lehnen und ihren Geschichten lauschen. Wieder zaubert die Erinnerung schneeige Berge, leuchtende Seen oder auch einen alten Hof, eine Scheuer — eine Bodenkammer.
 
Sie lag nicht in unserm Haus. Bei uns war alles hell und neu und sauber, sogar auf dem Boden. Aber im Nachbarhaus, schräg über der Straße, war eine richtige alte Bodenkammer, durch deren halbblindes Fenster das Licht nur spärlich eindringen konnte. Gegen Abend wurde es daher düster und schön gruselig. Man hockte so nahe wie möglich zusammen auf der riesigen alten Kiste und erzählte sich Geistergeschichten, bis einem vor Angst beinahe die Stimme versagte. Ich hatte an unserer Köchin eine sehr ergiebige Quelle und wußte u. a. von »den Mädchen, die noch Erbsen einlegen wollten« und von dem fürchterlichen Telegramm »Habe acht auf den Sarg« zu erzählen.
 
Anni, die Älteste unserer kleinen Schar, behandelte Hauffs »Gespensterschiff«. Wir kannten ja die Geschichte längst auswendig, aber Anni sorgte für Variationen, so daß wir immer neuen Grund zum Kreischen fanden.
 
Die andern zwei erzählten nie. Dem dicken Gretchen fiel nichts ein und das kleine Elschen zählte noch gar nicht recht mit. Sie mußte sich überhaupt geschmeichelt fühlen, daß wir großen acht- und neunjährigen Mädels sie mittun ließen. Wenn man erst fünf Jahre alt ist und noch nicht einmal lesen kann!
 
Sie, Klein-Elschen, war übrigens manchmal recht angenehm. Wenn man statt der Puppen gerne ein lebendiges Kindchen gehabt hätte, ließ sie sich geduldig in einen großen Schal wickeln und herumschleppen. Ja, sie nahm sogar mit sichtlichem Vergnügen den Schnuller in den Mund, den wir dem richtigen Baby entwendet hatten. Mit unserer Moral war es überhaupt etwas lax bestellt. Wurde in unserm Haushalt irgend ein Mangel entdeckt, so unternahm das für die Sache am meisten Befähigte einen Beutezug nach unten, wir nannten es einen Ausgang in die Stadt.
 
 
Die Bodenkammer war sehr geräumig. Wir hatten uns in einer Ecke ein ganz behagliches Wohnzimmerchen eingerichtet, dessen Hauptstolz ein dreibeiniges Sofa — an Stelle des vierten Beines stand eine Kiste — und eine wacklige Kinderbettlade bildete. Wir waren auch im Besitz einer Truhe, deren Deckel so schwer war, daß wir ihn nur mit Lebensgefahr aufheben konnten. Lange war es uns überhaupt nicht gelungen, und wir hatten uns schon darein ergeben, nie etwas von den darin verborgenen Schätzen zu Gesicht zu bekommen. Aber einmal packte uns die Neugierde so mächtig, daß sie uns wahre Riesenkräfte zu verleihen schien; unter Stöhnen und Ächzen gelang es uns, den Deckel zurückzuschlagen. Eine dicke Staubdecke war das erste, was sich den vier neugierig gesenkten Kinderköpfen darbot. Sie lag über einer Menge Bücher und vergilbter Blätter und hatte sich auf einem rundlichen, mit einem Tuch bedeckten Gegenstand, der in der untersten Tiefe sichtbar ward, angesammelt. Was stak wohl unter dem Tuch?
 
»Ein Ball!« riet das kleine Elschen. »Ein Goldklumpen!« meinte Gretchen mit bedächtiger Stimme.
 
»Wir wollen es herausholen,« schlug Anni vor. »Steig' du hinein, Mixi, du bist die Dünnste.«
 
Dagegen ließ sich nichts einwenden. Ich hockte zwischen den staubigen Büchern nieder und fing an, das runde Ding aus seiner Umhüllung zu schälen. Ich versuchte dabei mit Kopf und Schultern den andern die Aussicht zu verdecken. Mußte ich in die staubige Kiste kriechen, so wollte ich wenigstens die Entdeckerfreude erst allein genießen.
 
 
Die letzte Hülle fiel und — — ein Totenschädel grinste mich an aus leeren Augenhöhlen ... in dem Oberkiefer staken noch ein paar gelbliche Zähne.
 
Ein eisiges Grauen packte mich, aber ich ließ den Schädel nicht fallen. Langsam, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, richtete ich mich auf und hielt meinen Spielgefährten den unheimlichen Fund entgegen.
 
Anni stieß einen gellenden Schrei aus. Das sonst etwas schwerfällige Gretchen flüchtete mit ein paar jähen Sätzen. Nur Elschen blieb stehen und tippte mit seinen rosigen Fingerchen auf den bleichen Schädel. Sie lachte dazu und sagte: »Was für ein komischer alter Mann!«
 
Die kalte Hand des Grauens ließ mich los. Ich lachte, lachte, daß mir beinahe die Tränen kamen. Dabei entglitt mir der Schädel und rollte mit merkwürdigem Ton über den Fußboden. Elschen hob ihn beinahe mitleidig auf und wickelte ihn in ihr Schürzchen.
 
Wir drei andern standen etwas verlegen beiseite. Zum erstenmal war sie die Überlegene, die Tonangebende.
 
»Wollen wir ihn begraben?« fragte die Kleine plötzlich, und wir stimmten begeistert zu.
 
Anni mußte sich unten nach einer passenden Schachtel, will sagen nach einem Sarg umsehen. Gretchen ging auf die Suche nach der Begräbnisstätte und dem Grabstein. Ich übernahm es, die Inschrift zu schreiben. Elschen, immer noch den Schädel im Schürzchen, lehnte neben mir und schaute bewundernd zu, wie ich mit krampfhaft festgehaltenem Federhalter meine großen, steifen Buchstaben malte.
 
»Lies es mir einmal vor!« bat sie, als das Werk beendet war, und ich las:
 
Hier ruht unser liber Uhruhrgroßvater.
Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.
»Du hättest nicht diesen Spruch schreiben sollen,« sagte Anni, mißbilligend das Schriftstück betrachtend. »Auf Gräber schreibt man ganz andere Sachen. Etwas von Auferstehen oder Wiedersehen.«
 
»Das ist mir einerlei!« entgegnete ich unerschüttert. »Mir gefällt der Spruch und ich habe den Ururgroßvater gefunden.«
 
Gretchen stand unter der Türe, die Hacke über der Schulter.
 
»Ich habe einen feinen Platz, kommt schnell!«
 
 
Eiligst wurde der Schädel in Annis Schachtel gesteckt. Der Deckel wollte zwar nicht zugehen, aber das schadete nichts. Wir legten einen Fetzen schwarzes Tuch darüber und nun ordnete sich der Zug. Voraus ging Gretchen, der Totengräber, dann Anni, der Pfarrer; Elschen, die den Schädel trug, war der Leichenwagen, ich stellte das Trauergeleite dar.
 
Wir gingen mit ernsten Köpfen und bedächtigem Schritt die Treppe hinunter. Unter der Türe begegnete uns die kleine Mutter des Hauses. Sie war eine zierliche, bewegliche Frau mit lebhaften Augen, die sich stets zu freuen schienen, obwohl sie oft genug Grund gehabt hätten, ärgerlich und müde drein zu sehen. Außer meinen drei Freundinnen waren noch zwei größere und zwei ganz kleine Brüder zu versorgen. Das zappelte und schrie, lachte und kreischte den ganzen Tag um die Mutter herum, zerriß Kleider und Strümpfe, beschmutzte Fußböden und Fensterscheiben, wollte gewaschen und gefüttert sein. In dem allem stand die kleine Mutter, trug den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar froh und aufrecht und hatte lachende, warme Augen.
 
Wir waren das so gewohnt und es erschien uns nichts Absonderliches. Erst viele Jahre später verstanden wir, was für eine tapfere Seele in der kleinen Mutter gewohnt hatte. 

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