Wiseli war ganz schneeweiß geworden. Es stand da und starrte den
Andres an, aber es sagte kein Wort und bewegte sich nicht.
"Ja so", fing Andres wieder an, "du kannst es ja nicht begreifen, es kommt mir alles durcheinander vor Freude. Jetzt will ich von vorn anfangen. Siehst du, Wiseli, jetzt eben habe ich es in der Kanzlei unterschrieben. Du bist jetzt mein Kind, und ich bin dein Vater, und du bleibst hier bei mir für immer und gehst nie mehr zurück zum Onkel. Hier bist du daheim, hier bei mir."
Jetzt hatte Wiseli alles begriffen. Auf einmal sprang es auf den Andres zu, umfaßte ihn mit beiden Armen und rief: "Vater! Vater!" Der Andres brachte kein Wort mehr hervor und das Wiseli auch nicht, denn es kam so viel zusammen im Herzen und in den Gedanken, daß es ganz überwältigt wurde. Aber mit einemmal war es, als ob ihm ein helles Licht aufginge. Es schaute den Andres mit leuchtenden Augen an und rief. "O Vater, jetzt weiß ich, wie es zugegangen ist und wer uns geholfen hat."
"So, so, und wer denn, Wiseli?" fragte er.
"Die Mutter!" war die rasche Antwort.
"Die Mutter?" wiederholte Andres, ein wenig erstaunt. "Wie meinst du das, Wiseli?"
Jetzt erzählte das Kind, wie es die Mutter gesehen hatte, ganz deutlich, wie sie es bei der Hand genommen und ihm einen sonnigen Weg gezeigt und gesagt hatte: Sieh, Wiseli, das ist dein Weg.
"Und jetzt, Vater", fuhr Wiseli eifrig fort, "jetzt ist mir auf einmal in den Sinn gekommen, wie der Weg war, gerade so, wie der draußen im Garten, wenn die Sonne darauf scheint und die Nelken so rot glühen und auf der anderen Seite die Rosen. Und die Mutter hat ihn schon gekannt und hat gewiß das ganze Jahr den lieben Gott gebeten, daß ich auf den Weg kommen dürfe. Sie hat schon gewußt, wie gut ich es bei dir haben würde, wie sonst nirgends auf der ganzen Welt. Das glaubst du jetzt auch, Vater, daß alles so gegangen ist, nicht wahr, seit du weißt, daß die Mutter mir den Weg bei den Nelken gezeigt hat?"
Der gute Andres konnte nichts sagen, die hellen Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Dabei aber lachte ihm eine solche Freude aus den nassen Augen, daß es dem Wiseli nicht bange wurde.
Als er aber endlich etwas sagen wollte, da hörte man nichts davon.
Denn in dem Augenblick wurde mit einem Krach die Tür aufgeschlagen,
und herein sprang mit einem Satz bis mitten in die Stube der Otto.
Dann machte er noch einen großen Sprung über einen Stuhl und rief:
"Juhe, wir haben gewonnen, und das Wiseli ist erlöst!"
Hinter ihm stürzte das Miezchen hervor, rannte gleich auf seinen
Freund los und sagte mit bedeutungsvollem Winken gegen die Tür hin:
"Jetzt, Andres, wirst du gleich sehen, was zum Genesungsfest kommt!"
Und da kam schon der Bäckerjunge herein mit einem so ungeheuren Brett auf dem Kopf, daß er in der Tür steckenblieb und nicht damit weiter konnte. Aber von hinten kam eine kräftige Hand, die hob und schob und stützte das wankende Gebäude, bis es glücklich in der Stube angelangt und auf den Tisch gesetzt war, den es gänzlich bedeckte. Denn Otto und Miezchen hatten Sparbüchsen geopfert und zum Genesungsfest den allergrößten Rahmkuchen machen lassen, den ein Mensch machen könnte. Da er nun zu klein geworden wäre als runder Kuchen, so hatte man ihn viereckig gemacht, so daß er den Ofen ausfüllte von vorn bis hinten und nun den ganzen Tisch bedeckte.
Auf den Boden stellte nun die Trine, die hinter dem Bäckerjungen hilfreich hereingekommen war, ihren großen Korb. Da waren ein schöner Braten darin und Wein dazu, denn die Frau Oberst hatte gesagt, heute habe der Andres gewiß noch keinen Bissen gegessen. Und vielleicht das Wiseli ebenfalls nicht, und so war es auch. Jetzt merkte auch das Wiseli, daß es hungrig war, als es alle die einladenden Sachen vor sich sah.
Nun setzte sich die ganze Gesellschaft an den Tisch, und man konnte gar nicht absehen, wer von allen das fröhlichste Gesicht hatte. Vor allem mußte der Riesenkuchen in der Mitte zerschnitten und die Hälfte auf den Boden gelegt werden, daß man Platz bekam. Nun folgte ein fröhliches Festessen, denn jedem, der an diesem Tisch saß, war sein höchster Wunsch in Erfüllung gegangen.
Als es nun spät geworden war unter all der Freude und man endlich vom Tisch aufstehen mußte, sagte Andres: "Heute habt ihr ein Fest bereitet. Aber am Sonntag will ich auch eins bereiten, dann kommt ihr wieder. Und das soll das Fest des Einstands sein für mein Töchterchen."
Nun schüttelten sich alle die Hände in der frohen Aussicht auf ein neues herrliches Fest und auf die immerwährende Befriedigung, das Wiseli beim Schreiner Andres zu wissen. In der Tür aber gab Wiseli dem Otto noch einmal die Hand und sagte: "Ich danke dir hunderttausendmal für alles Gute, Otto. Der Chäppi hat mir auch nie mehr etwas an den Kopf geworfen, weil er nicht durfte. Das habe ich nur dir zu danken."
"Und ich danke dir auch, Wiseli", entgegnete Otto. "Ich habe gar nie mehr die Fetzen auflesen müssen in der Schule. Das habe ich nur dir zu danken."
Nun war in dem Stübchen alles still geworden, und der Mondschein kam leise durchs Fenster herein, bei dem der Schreiner Andres saß, während Wiseli abräumte. Dann kam das Kind zu ihm und sagte: "Vater, soll ich dir nicht den Liedervers der Mutter laut vorbeten? Ich habe ihn heute abend immer wieder leise für mich sagen müssen. Den will ich gewiß mein ganzes Leben lang nie vergessen."
Andres wollte den Vers hören, und Wiseli schaute zu den Sternen auf und sagte tief aus seinem Herzen heraus:
("Befiehl du deine Wege,
Und was dein Herze kränkt,
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.)
(Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.")
Von diesem Tag an war und blieb das allerglücklichste Haus im ganzen Dorf und im ganzen Land das Häuschen des Schreiners Andres mit dem sonnigen Nelkengarten. Wo seither das Wiseli sich blicken ließ, da waren alle Leute so freundlich mit ihm, daß es nur staunen mußte. Denn vorher hatten sie es nie beachtet, und der onkel und die Tante gingen nie am Haus vorbei, ohne schnell hereinzukommen, ihm die Hand zu geben und zu sagen, es solle auch zu ihnen kommen.
Über diese Wendung war das Wiseli froh, denn es hatte immer heimlich Angst gehabt beim Gedanken, was der onkel zu allem sagen werde. So war Wiseli von aller Furcht befreit und war fröhlich. Im stillen aber dachte es: Der Otto und seine Familie waren gut mit mir, als es mir schlechtging und ich niemanden mehr auf der Welt hatte. Aber die anderen Leute sind erst freundlich mit mir geworden, seit es mir gutgeht und ich einen Vater habe. Ich weiß ganz gut, wer es am besten mit mir meint.