Endlich ging der Joggi den Hang hinunter. Voller Freude schauten die Mutter, Otto und Miezchen ihm nach. Er hielt seinen Zuckerhahn bald in der einen, bald in der anderen Hand, lachte immerzu und hatte seinen Schrecken ganz vergessen.
Seit drei Tagen hatte die Frau Oberst den Schreiner Andres nicht besucht. Es hatte sich so vieles ereignet in diesen Tagen, daß sie gar nicht begriff, wie die Zeit dahingegangen war. Doch konnte sie ja beruhigt sein, sie wußte, daß der Andres gut verpflegt und dazu auf dem besten Weg der Genesung war.
Ihr Mann hatte gleich am Morgen nach seiner Rückkehr aus der Stadt den Andres besucht, um ihm die Entdeckung und die Festnahme seines Bruders selbst mitzuteilen. Andres hatte ganz ruhig zugehört und dann gesagt: "Er hat es so haben wollen. Es wäre doch besser gewesen, er hätte mich um ein wenig Geld gebeten. Ich hätte es ihm ja gegeben. Aber er hat immer lieber geprügelt als geredet."
Jetzt trat die Frau Oberst am sonnigen Wintermorgen aus ihrer Tür und stieg fröhlich den Berg hinunter. Denn sie beschäftigte sich in ihrem Innern mit einem Gedanken, der ihr gut gefiel. Als sie die Haustür aufmachte beim Schreiner Andres, kam Wiseli eben aus der Stube heraus. Seine Augen waren ganz aufgeschwollen und hochrot vom Weinen. Es gab der Frau Oberst nur flüchtig die Hand und lief scheu in die Küche hinein, um sich zu verstecken.
So hatte die Frau Oberst das Wiseli noch nie gesehen. Was konnte
da geschehen sein? Sie trat in die Stube. Da saß am sonnigen
Fenster der Andres und sah aus, als sei ein noch nie erlebtes
Unheil über ihn hereingebrochen.
"Was ist denn hier geschehen?" fragte die Frau Oberst und vergaß im
Schrecken guten Tag zu sagen.
"Ach, Frau Oberst", stöhnte Andres, "ich wollte, das Kind wäre nie in mein Haus gekommen!"
"Was", rief sie noch erschrockener aus, "das Wiseli? Kann dieses
Kind Ihnen ein Leid angetan haben?"
"Ach, um Himmels willen, nein, Frau Oberst, so meine ich es nicht", entgegnete Andres aufgeregt. "Aber nun ist das Kind bei mir gewesen und hat mir ein Leben gemacht in meinem Häuschen, wie im Paradies. Und jetzt muß ich das Kind wieder hergeben, und alles wird viel öder und leerer um mich her sein als vorher. Ich kann es nicht aushalten. Sie können sich gar nicht denken, wie lieb mir das Kind ist. Ich kann es nicht aushalten, wenn sie mir's wegnehmen. Morgen muß es gehen, der onkel hat schon zweimal den Buben geschickt. Es müsse nun zurückkommen, morgen müsse es sein. Und dann ist noch etwas, das mir fast das Herz zersprengt. Seitdem der onkel den Buben geschickt hat, ist das Kind ganz still geworden und weint heimlich. Es will es nicht so zeigen, aber man kann's sehen, es fällt ihm schwer zu gehen. Und morgen muß es sein. Ich übertreibe nicht, Frau Oberst. Aber das kann ich sagen. Alles, was ich seit dreißig Jahren erspart und erarbeitet habe, gäbe ich seinem Onkel, wenn er mir das Kind ließe."
Die Frau Oberst hatte den aufgeregten Andres zu Ende reden lassen.
Jetzt sagte sie ruhig: "Das würde ich nicht tun an Ihrer Stelle.
Ich würde es ganz anders machen."
Andres schaute sie fragend an.
"Seht, Andres, so würde ich es machen. Ich würde sagen: 'All mein wohlverdientes Gut will ich jemandem zurücklassen, der mir lieb ist. Ich will das Wiseli an Kindesstatt annehmen, ich will sein Vater sein, und es soll als mein Kind in meinem Haus bleiben.' Würde Ihnen das nicht gefallen, Andres?"
Der Andres hatte lautlos zugehört, und seine Augen waren immer größer geworden. Jetzt ergriff er die Hand der Frau Oberst und drückte sie.
"Kann man das wirklich machen? Könnte ich sagen: das Wiseli ist mein Kind, mein eigenes Kind, und niemand hat mehr ein Recht an dem Kind, und kein Mensch kann es mir mehr nehmen?"
"Das können Sie, Andres", versicherte die Frau Oberst. "Sobald das Wiseli Ihr Kind ist, hat kein Mensch mehr ein Recht auf das Kind. Sie sind der Vater. Und weil ich mir gedacht hatte, Sie könnten den Wunsch haben, das Wiseli zu behalten, so habe ich meinen Mann gebeten, heute nicht fortzugehen, falls Sie etwa zur Stadt in die Kanzlei fahren würden, daß alles bald festgesetzt werde, denn zu Fuß können Sie noch nicht gehen."
Andres wußte gar nicht, was er tat vor Aufregung und Freude. Er lief dahin und dorthin und suchte den Sonntagsrock. Dann rief er immer wieder: "Ist es auch sicher wahr? Kann's auch sein?" Dann stand er wieder vor der Frau Oberst und fragte: "Kann es jetzt sein, gleich jetzt, heute noch?"
"Gleich jetzt", versicherte sie. Doch gab sie nun dem Schreiner Andres die Hand zum Abschied, sie mußte gehen und ihrem Mann mitteilen, daß Andres schon reisefertig sei.
"Sie sollten es dem Wiseli erst am Abend sagen, wenn alles gut eingeleitet ist", bemerkte die Frau Oberst noch unter der Tür.
"Ja, sicher, sicher", gab Andres zur Antwort. "Jetzt brächte ich ohnehin kein Wort hervor."
Als die Tür sich schloß, setzte sich Andres auf seinen Stuhl und zitterte an Händen und Füßen so sehr, daß er meinte, er könne nie mehr aufstehen. So waren ihm die Freude und Aufregung in alle Glieder gefahren. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, da kam schon der Wagen des Obersten angefahren und hielt am Gärtchen des Schreiners. Und zu Wiselis unbeschreiblichem Erstaunen stieg der Knecht von seinem Sitz herunter, kam herein, und nach wenigen Minuten sah es, wie er wieder herauskam, den Schreiner Andres mit beiden Armen festhielt und ihm dann in den Wagen half.
Wiseli schaute dem Fuhrwerk nach, als bewege sich etwas Unfaßliches vor seinen Augen, denn der Schreiner Andres hatte kein Wort mehr zu ihm sagen können, nicht einmal, daß er ausfahren werde.
Jetzt ging Wiseli in die Stube hinein und setzte sich ans Fenster, wo sonst der Schreiner Andres saß. Und es konnte nichts anderes mehr denken als nur immerzu: Heute ist der letzte Tag, und morgen muß ich zum onkel gehen.
Als der Mittag herankam, ging Wiseli in die Küche hinaus und machte zurecht, was der Andres essen sollte. Aber er kam nicht, und es wollte nichts essen, wenn er nicht dabei war. So ging es wieder hinein, und sofort stand der traurige Gedanke wieder vor ihm.
Aber endlich wurde es so müde vom Nachdenken, daß sein Kopf ihm auf die Schulter fiel und es fest einschlief. Aber noch im Schlaf mußte es immer sagen: "Und morgen muß ich zum onkel gehen." Und Wiseli sah nicht, wie leise der helle Abendschein in die Stube fiel und einen schönen Tag verkündigte.
Wiseli schreckte hoch, als jemand die Stubentür öffnete. Es war der Schreiner Andres. Das Glück leuchtete ihm aus den Augen wie heller Sonnenschein, so hatte ihn Wiseli noch nie gesehen. Es schaute verwundert zu ihm auf. Jetzt mußte er auf seinen Stuhl sitzen und Atem holen vor Rührung, nicht vor Erschöpfung. Dann rief er mit triumphierender Stimme: "Es ist wahr, Wiseli, es ist alles wirklich wahr! Die Herren haben alle ja gesagt. Du gehörst mir, ich bin dein Vater, sag mir einmal 'Vater'!"