Der Sommer war vergangen, und auch die schönen Herbsttage waren zu
Ende. Es wurde kühl und nebelig am Abend, und in den feuchten
Wiesen fraßen die Kühe das letzte Gras ab. Hier und da flackerten
auf den Wiesen kleine Feuer auf, denn die Hirtenbuben brieten
Kartoffeln und wärmten sich die Hände,
An einem solchen nebelgrauen Abend kam Otto aus der Schule heim und erklärte seiner Mutter, er müsse nachsehen, was das Wiseli mache. Denn seit den Herbstferien war es noch nicht in die Schule gekommen, acht Tage lang nicht. Otto steckte seine Vesperäpfel zu sich und lief davon. Am Buchenrain angekommen, sah er den Rudi vor der Haustür am Boden sitzen und von einem Haufen Birnen, die neben ihm lagen, eine nach der anderen zerreißen.
"Wo ist das Wiseli?" fragte Otto.
"Draußen", war die Antwort.
"Wo draußen?"
"Auf der Wiese."
"Auf welcher Wiese?"
"Ich weiß nicht." Und Rudi kaute weiter an seinen Birnen.
"Du stirbst einmal nicht am Gescheitsein", bemerkte Otto und ging auf gut Glück zur großen Wiese, die sich vom Haus bis gegen den Wald hinaufzog. Jetzt entdeckte er drei schwarze Punkte unter einem Birnbaum und ging darauf zu. Richtig, da bückte sich Wiseli, um die Birnen zusammenzulesen. Dort saß der Chäppi rittlings auf seinem Birnenkorb, und zuhinterst lag der Hans rücklings über den vollen Korb hin und schaukelte sich so darauf, daß der Korb jeden Augenblick umzustürzen drohte. Chäppi sah ihm zu und lachte.
Als Wiseli den Otto herankommen sah, leuchtete sein Gesicht auf. "Guten Abend, Wiseli", rief er von weitem, "warum bist du so lange nicht in die Schule gekommen?"
Wiseli streckte erfreut dem Otto die Hand entgegen. "Wir haben so viel zu tun, darum durfte ich nicht kommen", sagte es. "Sieh nur, wie viel Birnen es gibt! Ich muß vom Morgen bis zum Abend auflesen, soviel ich nur kann."
"Du hast ja ganz nasse Schuhe und Strümpfe", erwiderte Otto. "Hier ist's nicht gemütlich. Frierst du nicht, wenn du so naß bist?"
"Ich fröstle nur manchmal ein wenig, sonst ist es mir eher heiß vom Auflesen." In diesem Augenblick gab der Hans seinem Korb einen solchen Ruck, daß alles übereinander auf den Boden hinrollte. Der Hans, der Korb und alle Birnen, die fuhren nach allen Richtungen hin.
"Oh, oh!" sagte Wiseli kläglich. "Nun muß man die alle wieder zusammenlesen."
"Und die auch", rief Chäppi und lachte, als die Birne, die er geworfen hatte, das Wiseli an der Schläfe traf, daß es ganz bleich wurde und ihm vor Schmerz das Wasser in die Augen schoß.
Kaum hatte Otto das gesehen, als er auf den Chäppi losfuhr, ihn samt seinem Korb umwarf und ihn fest im Genick packte. "Hör auf, ich muß ersticken", gurgelte der Chäppi. Jetzt lachte er nicht mehr.
"Du sollst daran denken, daß du es mit mir zu tun hast, wenn du so mit dem Wiseli umgehst", rief Otto zornig. "Hast du genug? Willst du daran denken?"
"Ja, ja, laß nur los!" bat Chäppi, mürbe gemacht.
Nun ließ Otto los. "Jetzt hast du's gespürt", sagte er; "wenn du dem Wiseli noch einmal etwas zuleide tust, so packe ich dich so, daß du noch einen Schrecken hast davon, wenn du siebzig Jahre alt bist. Auf Wiedersehen, Wiseli." Damit drehte sich Otto um und ging mit seinem Zorn nachhause.
Hier suchte er gleich seine Mutter auf und erzählte ihr empört, daß das Wiseli eine solche Behandlung erdulden müsse. Er war auch ganz entschlossen, auf der Stelle zum Herrn Pfarrer zu gehen und den onkel und seine ganze Familie anzuklagen, damit man ihnen das Wiseli entreiße.
Die Mutter hörte zu, bis Otto sich ein wenig beruhigt hatte, dann sagte sie: "Lieber Junge, das würde gar nichts nutzen, das Kind würde man dem onkel nicht wegnehmen, nur ihn reizen, wenn er so etwas hörte. Er meint es selbst nicht böse mit dem Kind, und es ist kein genügender Grund da, ihm Wiseli wegzunehmen. Ich weiß, daß das arme Kind jetzt ein hartes Brot ißt. Ich habe es auch nicht vergessen, ich schaue immer danach aus, ob mir der liebe Gott nicht einen Weg zeigt, wie dem Kind geholfen werden könnte. Die Sache liegt mir auch am Herzen, das kannst du glauben, Otto. Wenn du inzwischen das Wiseli schützen und den groben Chäppi ein wenig zähmen kannst, ohne selbst dabei grob zu werden, so bin ich ganz damit einverstanden."
Otto beruhigte sich bei dem Gedanken, daß die Mutter nach einem anderen Weg für das Wiseli ausschaute. Er selber dachte alle möglichen Rettungswege aus, aber alle führten in die Luft hinauf und hatten keinen Boden. Und er sah ein, daß das Wiseli darauf nicht gehen konnte. Als er dann zu Weihnachten seine Wünsche aufschreiben durfte, da schrieb er ganz verzweifelt mit ungeheuren Buchstaben, so als müßte man sie vom Himmel herunter lesen können, auf sein Papier: 'Ich wünsche, daß das Christkind das Wiseli befreit.'
Nun war der kalte Januar wieder da, und der Schlittenweg war so prächtig glatt und fest, daß die Kinder gar nicht genug bekommen konnten, die herrliche Bahn zu benutzen. Es kam auch eine helle Mondnacht nach der anderen, und Otto hatte auf einmal den Einfall, am allerschönsten müßte das Schlittenfahren im Mondschein sein. Die ganze Gesellschaft sollte sich am Abend um sieben Uhr zusammenfinden und die Mondscheinfahrten ausführen, denn es war der Tag des Vollmonds. Da mußte es prächtig werden.
Mit Jubel wurde der Vorschlag angenommen, und die Schlittbahngenossen trennten sich gegen fünf Uhr wie gewöhnlich, da die Nacht einbrach, um sich um sieben Uhr wieder zusammenzufinden.
Weniger Anklang fand der Vorschlag bei Ottos Mutter, als er ihr mitgeteilt wurde. Sie ließ sich gar nicht von der Begeisterung hinreißen, mit der die Kinder beide auf einmal und in den lautesten Tönen ihr das Wundervolle dieser Unternehmung schilderten. Sie hielt ihnen die Kälte des späten Abends vor, die Unsicherheit der Fahrten bei dem ungewissen Licht und alle Gefahren, die besonders das Miezchen bedrohen könnten.
Aber die Einwände blieben wirkungslos, und Miezchen bettelte inständig, als hinge seine einzige Lebensfreude an dieser Schlittenfahrt. Otto versprach auch, er wurde auf Miezchen aufpassen und immer in seiner nächsten Nähe bleiben.
Endlich willigte die Mutter ein. Mit großem Jubel und wohlverpackt zogen die Kinder ein paar Stunden nachher in die helle Nacht hinaus. Es ging alles ganz nach Wunsch, die Schlittenbahn war unvergleichlich, und das Geheimnisvolle der dunklen Stellen, wo der Mondschein nicht hinfiel, erhöhte den Reiz der Unternehmung. Eine Menge Kinder hatte sich eingefunden, alle waren in der fröhlichsten Stimmung.
Otto ließ sie alle vorausfahren, dann kam er, und zuletzt mußte das Miezchen kommen, damit ihm keiner in den Rücken fahren konnte. So hatte es Otto eingerichtet, er konnte sich dabei auch immer von Zeit zu Zeit mit einem Blick vergewissern, ob Miezchen nachkomme.