Als Otto und seine Schwester durch den langen, steinernen Hausflur hereinstürmten, trat die alte Trine aus einer Tür und hielt ihr Licht in die Höhe, um besser zu sehen, was dahergetrappelt kam. "So, endlich!" sagte sie, halb zankend, halb wohlgefällig. "Die Mutter hat schon nach euch gefragt, aber da war kein Bein zu sehen. Und acht Uhr hat's geschlagen—vor wer weiß wie langer Zeit." Die alte Trine war schon Magd in der Familie gewesen, als die Mutter der beiden Kinder zur Welt kam. So hatte sie große Rechte im Haus und fühlte sich durchaus als Familienmitglied, eigentlich als Oberhaupt, denn an Alter und Erfahrung war sie die erste. Die alte Trine war vernarrt in beide Kinder ihrer Herrschaft und sehr stolz auf alle ihre Anlagen und Eigenschaften. Das ließ sie aber nicht merken, sondern sprach immer in entrüstetem Ton mit ihnen, denn das fand sie erzieherisch.
"Schuhe aus, Pantoffeln an!" rief sie jetzt. Der Befehl wurde aber gleich darauf von ihr selbst vollzogen, denn sofort kniete sie vor Otto hin, der sich auf einem Sessel niedergelassen hatte, und zog ihm die nassen Schuhe aus. Die kleine Schwester stand inzwischen mitten in der Stube und rührte sich nicht, was sonst nicht ihre Art war, so daß die alte Trine während ihrer Arbeit ein paarmal hinüberschielte. Jetzt war Otto gerüstet, und Miezchen sollte auf dem Sessel sitzen. Aber es stand noch auf demselben Platz.
"Nun, wollen wir warten, bis es Sommer wird, dann trocknen die
Schuhe von selbst", sagte die Trine.
"Pst! pst! Trine, ich habe etwas gehört. Wer ist in der großen
Stube?" fragte Miezchen und hob den Zeigefinger.
"Alles Leute mit trockenen Schuhen, und andere kommen nicht hinein.
Jetzt setz dich", mahnte Trine.
Aber anstatt zu sitzen, sprang Miezchen hoch und rief: "Jetzt habe ich's wieder gehört, so lacht der onkel Max."
"Was?" schrie Otto und war mit einem Satz bei der Tür.
"Wart! wart!" schrie Miezchen nach und wollte gleich mit zur Tür hinaus. Aber jetzt wurde es abgefaßt und auf den StuhI gesetzt, die alte Trine hatte jedoch einen schweren Stand mit den zappelnden Füßchen. Doch gelang die Arbeit, und nun stürzte Miezchen zur Tür hinaus und hinüber in die große Stube und direkt auf den onkel Max los, der richtig dort im Lehnstuhl saß.
Da war nun ein großer Freudenlärm und ein Grüßen und ein Willkommenrufen in allen Tönen, und in das Lachen der Kinder stimmte der onkel Max mit ein. Es dauerte einige Zeit, bis sich der Tumult etwas gelegt hatte und die Festfreude einen ruhigen Charakter annahm. Denn ein Fest für die Kinder war der Besuch des onkels jedesmal und aus triftigen Gründen. Der onkel Max war ihr besonderer Freund. Er war fast immer auf Reisen und kam nur alle paar Monate einmal zu Besuch. Dann gab er sich aber mit den Kindern ab, als gehörten sie ihm selber an. Und was er für wunderbar herrliche Sachen in allen Taschen für sie brachte, das war mit nichts zu vergleichen, denn es war alles ganz fremdartig und zauberhaft. Der onkel Max war ein Naturforscher und reiste in allen Winkeln der Erde umher. Und aus jedem brachte er etwas Eigentümliches mit.
Endlich saß die Gesellschaft geordnet um den Tisch herum, und die dampfende Schüssel brachte völlige Besänftigung in die aufgeregten Gemüter. Denn von der Schlittenbahn wurde immer ein richtiger Appetit mitgebracht. "So", sagte der Papa und blickte über den Tisch hinüber, wo an der Seite der Mutter das Töchterchen fleißig arbeitete. "So, so, heute hat also das Miezchen keine Hand für seinen Papa, noch habe ich keinen Gruß bekommen. Und jetzt ist keine Zeit mehr dazu."
Etwas zerknirscht schaute das Miezchen von seinem Teller auf und sagte: "Aber Papa, aber ich habe es nicht mit Absicht getan, und jetzt will ich gleich…" Und damit stieß sie mit großer Anstrengung den Sessel zurück.
Aber der Papa rief: "Nein, nein, jetzt nur keine Ruhestörung! Da gib die Hand über den Tisch hin, das übrige wollen wir dann nachholen. So ist's recht, Miezchen."
"Wie hat man eigentlich das Kind getauft, Marie? Ich war zwar auch dabei, aber ich habe keine Ahnung, welcher Name in der Kirche ausgesprochen wurde, Miezchen doch nicht?" sagte der onkel lachend.
"Du warst wirklich dabei, Max", entgegnete seine Schwester, "da du der Pate des Kindes bist. Es erhielt damals den Namen Marie. Sein Papa machte daraus ein Miezchen, und Otto hat den Namen noch recht unnütz vervielfältigt."
"O nein, Mama, wirklich nicht unnütz", rief Otto ernsthaft. "Siehst du, Onkel, das geht nach ganz bestimmten Regeln. Wenn das kleine Ding ordentlich und sanftmütig ist, dann nenne ich es Miezchen. Das geschieht aber selten, und im gewöhnlichen Leben nenne ich es daher Miezi. Wird es aber böse, dann sieht es ganz aus wie ein kleiner wilder Kater und muß Miez genannt werden, der Miez."
"Ja, ja, Otto", tönte es nun zurück, "und wenn du böse wirst, dann siehst du ganz aus wie ein—wie ein…"
"Wie ein Mann", ergänzte Otto, und da dem Miezchen eben kein
Vergleich einfiel, so arbeitete es jetzt um so emsiger an seinem
Brei herum.
Der onkel lachte laut auf. "Das Miezchen hat recht", rief er, "es ist besser, sich um seine Geschäfte zu kümmern, als auf Schmähungen zu antworten." "Aber, Kinder", setzte er nach einer Weile hinzu, "nun bin ich fast ein Jahr nicht hier gewesen, und ihr habt mir noch gar nichts erzählt. Was habt ihr denn inzwischen alles erlebt?"
Die neuesten Ereignisse erfüllten zunächst den Sinn der Kinder. So wurde gleich mit großer Lebhaftigkeit, meistens im Chor, die eben erlebte Geschichte erzählt, wie der Chäppi das Wiseli behandelt hatte, wie es fror und im Schnee stand und keinen Schlitten hatte und endlich doch noch zu zwei Fahrten kam.
"So ist's recht, Otto", sagte der Papa. "Du mußt deinem Namen Ehre machen, für die Wehrlosen und Verfolgten mußt du dich immer einsetzen. Wer ist das Wiseli?"
"Du kannst das Kind und seine Mutter kaum kennen", sagte die Mama, zu ihrem Mann gewandt. "Aber der onkel Max kennt Wiselis Mutter recht gut. Du kannst dich doch noch auf den mageren Leineweber besinnen, Max, der unser Nachbar war. Er hatte ein einziges Kind mit großen braunen Augen, das oft bei uns im Pfarrhaus war und so schön singen konnte. Erinnerst du dich?"
Bevor aber die weiteren Erinnerungen besprochen wurden, steckte die alte Trine ihren Kopf zur Tür herein und rief: "Der Schreiner Andres möchte gern der Frau Oberst einen Bericht abgeben, wenn er nicht stört." Diese harmlosen Worte verursachten große Verwirrung in der Gesellschaft. Die Mutter legte den Servierlöffel, mit dem sie soeben dem onkel entgegenkommen wollte, beiseite und sagte eilig: "Entschuldigt mich!" Rasch ging sie hinaus. Otto sprang so stürmisch auf, daß er seinen Stuhl umwarf und dann selbst darüber stürzte, als er davonlaufen wollte. Das Miezchen hatte ähnliche Taten vor, aber der onkel hatte seine ersten Bewegungen zum Aufruhr gesehen und hielt es nun mit beiden Armen fest. Aber es zappelte jämmerlich und schrie: "Laß los, Onkel, laß los. Im Ernst, ich muß gehen."