Sofie und Papa gingen an einem schönen Sonntag Nachmittag gemeinsam am nahen Fluss spazieren. Am Ufer wuchsen schöne Blumen und dichte Büsche in denen sich viele kleine Insekten tummelten und Nektar schlürften. Hier und da schnupperte Sofie begeistert an den Blüten und erfreute sich an den herrlichen Düften.
»Schau mal, Papa. Die Blume ist aber besonders groß.«
Sofort lief sie den Weg entlang und wollte sich die große Pflanze zum riechen herunter ziehen, als Papa sie bremste.
»Bleib stehen! Fass sie bloß nicht an. Die ist gefährlich.«
Sofie blieb tatsächlich stehen und drehte sich um. »Das ist doch nur eine Blume. Die kann doch nicht gefährlich sein. Sie wird mich bestimmt nicht auffressen oder in den Fluss werfen.«
Papa grinste. »Das vielleicht nicht. Aber wenn man sie berührt, bekommt man ganz schlimme Verbrennungen.«
Sofie verdrehte die Augen. »Das glaube ich dir nicht. Ich sehe hier gar kein Feuer und heiß ist die Blume auch nicht. Das kann doch gar nicht funktionieren.«
Papa setzte sich auf eine Bank. Seine Tochter setzte sich dazu.
»Wenn man den Saft dieser Pflanze auf die Haut bekommt und dann die Sonne darauf scheint, dann ist das so, als wenn man brennen würde. Das ist sehr, sehr gefährlich.«
Sofie bekam große Augen, denn beinahe wäre ihr das passiert.
»Das ist aber eine richtig böse Pflanze. Warum tut die das?«
»Das macht der Riesenbärenklau, so heißt sie, um sich zu schützen.«
»Riesenbärenklau?« fragte Sofie überrascht. »Warum heißt die Blume Riesenbärenklau?«
Sie dachte ein paar Sekunden nach, bevor sie die nächste Frage stellte.
»Papa, warum klauen Riesen eigentlich Bären?«
Papa kratzte sich am Kinn. Er dachte noch nach.
»Das ist eine sehr gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von der Farbe der Wolken. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«
Es war einmal eine alte Frau, die den ganzen Tag in ihrer Puppenstube saß und kleine Puppen herstellte. Sie machte ihre Arbeit gut, denn ihre Puppen waren die schönsten in der ganzen Stadt. Ihr ganzes Leben hatte sie nichts anderes gemacht. Mit ihren Puppen hatte sie ohne Ausnahme alle Kinderaugen der Stadt glücklich gemacht. Irgendwann gab es in jedem Haus so viele Puppen, dass niemand mehr welche kaufen wollte. Also überlegte die alte Frau recht lange nach, womit sie in Zukunft den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte.
Wochenlang schloss sie sich in ihrer Puppenstube ein und probierte vieles aus. Sie erfand kleine Holzfiguren, baute Schiffchen, entwarf große Papierdrachen und mehr. Aber nichts von allem gefiel ihr.
An einem frühen Abend, kurz vor Sonnenuntergang machte sie einen Spaziergang im nahem Wald. Kurz bevor es zu dunkel wurde, hörte sie plötzlich ein Geräusch. Zwischen den dicken Bäumen entdeckte sie einen großen, braunen Bären, der auf der Suche nach Futter war. Die alte Frau hielt den Atem an und versteckte sich ängstlich, bis der Bär verschwunden war. Dann machte sie sich eilig auf den Weg nach Hause.
In der Nacht hatte sie plötzlich eine Idee.
»Ich werde kleine Bären zum Kuscheln nähen. Das wird den Kindern bestimmt gefallen.«
Sofort machte sie sich an die Arbeit, bis am nächsten Morgen ein fertiger Kuschelbär in ihrem Schaufenster stand.
Nicht nur die Kinder der Stadt, sondern auch ihre Eltern drückten sich wenig später ihre Nasen am Fenster platt. Der kleine Bär dahinter zog sie magisch an. Jeder wollte einen haben. Das Problem war, dass es nur einen gab.
Die alte Frau hatte tatsächlich etwas gefunden, was sie nun jeden Tag herstellen konnte.
Tag für Tag landeten neue Bären in ihrem Laden, die aber nur wenige Augenblicke dort blieben. Sie wurden sofort begeistert gekauft. Sie verkauften sich sogar besser als die Puppen zuvor.
Nach ein paar Tagen kamen ein paar weinende Kinder in die Puppenstube. Ihre Bären waren spurlos verschwunden.
Von nun an verschwanden jede Nacht mehr Kuschelbären. Irgendwer brach in die Häuser ein, schnappte sie und verschwand ungesehen in der Dunkelheit.
Das ärgerte die alte Frau so sehr, dass sie eines Abends mehrere Bären vor die Eingangstür der Puppenstube ablegte und sich dann in einer dunklen Ecke versteckte.
Irgendwann ging die Sonne unter, der Mond ging auf und die Sterne begannen am Himmel zu funkeln. Die Menschen der Stadt gingen schlafen und die Kinder hatten Angst um ihre Kuschelbären.
Irgendwann in der tiefen Nacht näherte sich ein großer, kaum sichtbarer Schatten der Puppenstube. Er war nicht nur groß, er war riesig. Die alte Frau hielt erschrocken den Atem an und beobachtete, wie die Kuschelbären ergriffen und entführt wurden. Dann verschwand der Schatten wieder in der Dunkelheit.
Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, folgte sie dem Bärendieb. Er bewegte sich sehr schnell mit großen Schritten durch den Wald, bis er bei Sonnenaufgang an einem Flussufer halt machte und die Bären hinter einer großen Pflanze versteckte und sich dann in eine Höhle zurückzog.
Die Frau sah vorsichtig hinter die Pflanze und entdeckte einen großen Haufen ihrer Bären.
»Das glaube ich einfach nicht. Hier sind sie alle.«
Sie wollte gerade den Fund aus dem Versteck holen, als eine große Hand sie festhielt.
»Bleib stehen! Fass sie bloß nicht an. Die ist gefährlich.«
Die alte Frau drehte sich erschrocken um und blickte in das Gesicht eines Riesen. Sofort geriet sie in Panik und begann zu schreien.
»Ich werde dir nichts tun. Aber du darfst die Pflanze nicht berühren. Sie würde dir die Haut verbrennen.«
Sofort entfernte sie sich ein paar Schritte von dieser Gefahr und versuchte sich zu beruhigen.
»Aber warum klaust du alle Bären der Stadt und versteckst sie hier?«
Der Riese seufzte und wischte sich eine dicke Träne aus seinem rechten Auge.
»Die Bären sind so schön und so kuschelig. Ich wollte für mich und die anderen Riesen auch welche davon haben. Aber wenn ich in die Stadt zum Einkaufen gehe, erschrecken sich alle Menschen zu Tode. Ich hätte nie einen bekommen. Hinter der Pflanze verstecke ich sie, damit sie mir niemand mehr abnimmt. Wer es trotzdem versucht, verbrennt sich nicht nur die Finger.«
»Ich werde euch helfen.« sagte die alte Frau schließlich. »Für jeden Bären, den ich für die Kinder in der Stadt nähe, werde ich einen anderen Bären für euch machen. Ich werde sie alle hinter der großen Pflanze verstecken, wo ihr sie euch dann abholen könnt. Und ich werde niemandem von euch erzählen.«
Papa lächelte, als er die Geschichte beendete.
»Die Frau gab dann der Pflanze noch einen Namen. Da der Riese ständig Bären geklaut hatte, nannte sie diese große Blume Riesenbärenklau. Danach erzählte sie allen Menschen in der Stadt, dass man sich ihr nicht nähern dürfe, weil man sich an ihr sehr schlimm verbrennen könne.«
Sofie drückte Papa an sich. »Das war eine tolle Geschichte. Aber ich glaube dir davon kein einziges Wort.«
Dann stand sie von der Bank auf und ging den Weg am Fluss weiter. Um jeden Riesenbärenklau, den sie sah, machte sie von nun an einen großen Bogen.