Es war spät geworden. Sofie lag im Garten in einem gemütlichen Liegestuhl und hielt sich den Bauch.
»Puh, jetzt bin ich aber richtig satt. Das Grillen war eine richtig klasse Idee.«
Papa grinste.
»Glaub aber nicht, dass wir das jetzt jeden Tag machen werden. Immerhin hab ich ja heute Geburtstag.«
Die letzten Gäste waren mittlerweile nach Hause gefahren und im Grill glühten nur noch vereinzelte Kohlen. Der Tag ging auf sein Ende zu und die kommende Nacht würde bald beginnen.
»Wir sollten langsam aufräumen. In einer halben Stunde wird es so dunkel sein, dass man seine Hand nicht mehr vor Augen sehen kann.«
»Mensch, Papa.«, mahnte Sofie. »So dunkel kann es doch gar nicht werden. Schließlich haben wir noch den Mond. Auf ihm brennt doch ein helles Feuer. Jedenfalls hast du mir das mal erzählt. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern.«
Papa kratzte sich am Kopf und dachte angestrengt nach.
»Nun, wenn du das sagst, dann muss es wohl stimmen.«
Gemeinsam brachten sie das Geschirr vom Garten direkt zur Spülmaschine und verstauten die Reste des Essens im Kühlschrank.
»Gehen wir noch einmal nach draußen? Ich will den Mond aufgehen sehen. Bitte, bitte.«
Papa seufzte und gab nach.
»Aber danach gehst du gleich ins Bett. Versprochen?«
»Versprochen!«, antwortete Sofie und flitzte jubelnd zurück in den Garten. Sie setzten sich zusammen auf eine Bank und warteten auf den Mond, der auch schon bald hinter dem Horizont zum Vorschein kam.
»Huch, was ist denn das? Da stimmt doch etwas nicht.«
Sofie staunte nicht schlecht, denn der Mond hatte sich verändert. Er sah viel größer aus als sonst, und seine Farbe war nicht mehr weiß sondern rot.
»Was ist denn da geschehen? Papa, warum ist denn der Mond so rot?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig vom rot gefärbten Mond. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«
Es war einmal eine junge hübsche Frau. Ihre Schönheit war im ganzen Land und sogar über alle Grenzen hinaus bekannt. Alle Männer dieser Welt hatten nur einen Wunsch. Sie wollten diese Frau heiraten. Ihr Name war Marie.
Marie lebte auf einem Bauernhof und half ihren Eltern dort bei der Arbeit. Jeden Tag fütterte sie die Schweine, schaufelte den Mist aus dem Kuhstall und sammelte die frisch gelegten Hühnereier ein. Sie schuftete von früh bis spät, war aber trotzdem mit ihrem Leben zufrieden. Nur eines fehlte ihr, eine eigene Familie, ein Mann und Kinder.
An jedem Abend bekam Marie Besuch. Es waren Heiratswütige, junge Burschen und gestandene Männer, einfache Bauern, Ritter und waschechte Prinzen. Die Schönheit der Bauerntochter lockte sie alle an.
Reiche Geschäftsleute versprachen ihr Wohlstand und zeigten ihr Beutel voller Gold. Die Prinzen wetteiferten untereinander mit der Größe ihrer Ländereien und die stolzesten und mutigsten Ritter traten im Kampf gegeneinander an. Aber nicht einer von ihnen konnte Maries Herz erreichen.
Der alte Bauer wusste sich keinen Rat mehr. Er hatte bereits alle Hoffnungen aufgegeben. In seinen Augen würde seine Tochter ohne Mann und Kinder zu Grabe getragen werden.
»Ach, wie herrlich es doch wäre, am Hofe eines Königs zu leben oder am Tisch einer reichen Familie zu speisen.«, beklagte er sich beinahe täglich. Doch das half auch nicht. Marie blieb allein und wartete auf den Mann, den sie nur aus ihren Träumen kannte.
»Ich will gar keine Königin werden oder die Frau eines reichen Mannes. Denn dann bin ich trotzdem allein. Mein Gatte hätte viel zu viel mit seinen Verpflichtungen und Geschäften zu tun.«, sagte sich Marie jeden Tag sehr selbstbewusst.
»Er darf ruhig ein ganz einfacher Mann sein. Er muss kein Geld besitzen. Dafür soll er reinen Herzens sein und reich an Gefühl, Witz und Charme sein. Denn dann will ich die seine sein.«
Der Bauer hörte dies nicht gern.
»Solche Männer gibt es nicht. Ein jeder ist ein Halunke und Ganove. Sie stehlen dir dein Herz. Das ist ihre Natur. Finde dich damit ab und heirate endlich. Einen besseren wirst du nicht finden.«
So ging die Zeit ins Land. Unzählige Männer umwarben die schönste Frau der Welt. Sie machten ihr Geschenke und waren großzügig mit Komplimenten. Aber nicht einer von ihnen vermochte es, das Herz der Bauerntochter zu gewinnen.
Eines Tages kam ein Jüngling in die Stadt. Sein Name war Andreas. Er stammte aus einem fernen Land und war auf Wanderschaft, um die Welt kennenzulernen. Am Abend nahm er sich für die Nacht ein Zimmer in einem Gasthof.
»Schon wieder so ein heiratswütiger Kerl. Aber auch dich wird die Bauerntochter nach Hause zurück schicken.«, grummelte der Wirt vor sich hin.
»Welche Bauerntochter meint ihr? So redet doch, guter Mann. Ich komme von weit her, habe eine lange Reise hinter mir und habe noch nicht viel von eurer Stadt gehört.«
Und so begann der Wirt die Geschichte von Marie zu erzählen. Andreas hörte gebannt zu und fasste schließlich einen Entschluss.
»Ich werde um die Gunst der Bauerntochter werben und ihr Herz im Sturm erobern. Sie wird gar nicht anders können, als sich in mich zu verlieben, denn ich bin der einzig Richtige für sie.«
Der Wirt rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf.
»Das haben alle anderen vor dir auch schon behauptet. Es wäre einfacher, wenn du sofort umdrehst und dir den Weg zum Bauernhof ersparst.«
Schon am nächsten Tag machte sich Andreas auf den Weg zum Bauernhof. Bis zum Mittag war er angekommen und hatte Marie sehr schnell gefunden. Sie stand im Stall und kümmerte sich um den Mist.
»Hallo, schöne Frau.«, grüßte er sie. »Ich will euch nur ungern von eurer Arbeit abhalten, aber vielleicht habt ihr ja einen kleinen Moment Zeit, um mich anzuhören.«
Andreas holte eine Blume hinter seinem Rücken hervor und hielt sie Marie hin.
Die Bauerntochter reagierte nicht auf das Geschenk.
»Wer seid ihr, dass ihr hier einfach vorbei kommt und mich von meinen Aufgaben abhalten wollt? Wenn ich jedem Verehrer auch nur wenige Minuten schenken würde, wäre ich meinen Eltern keine große Hilfe.«
Andreas war erstaunt. Er hatte es sich schwer vorgestellt. Aber dies hier schien nahezu aussichtslos zu sein.
»Oh, hat es euch die Sprache verschlagen? Für jemanden, der mich heiraten möchte, solltet ihr besser mit Worten umgehen können.«
Die Bauerntochter dachte kurz nach und sprach dann weiter.
»Oder seit ihr etwa ein Mann der Tat? Wollt ihr um mich kämpfen oder vielleicht einen Drachen für mich töten?«
Sie winkte ab.
»Ach nein, vergesst das ganz schnell. Es gibt schon viel zu viele große Helden, die mich nicht beeindrucken können. Oder schreibt ihr lieber Gedichte? Doch auch damit könnte ich bereits eine ganze Bibliothek füllen.«
Marie setzte sich auf einen Strohballen.
»Ich möchte doch einfach nur einen Mann, der mein Herz mit etwas ganz Besonderem berührt.«
Andreas setzte sich zu ihr, hielt aber gebührlichen Abstand. Er dachte eine Weile nach, bis er schließlich eine Idee hatte.
»Diesen Wunsch werde ich euch erfüllen. Erwartet mich am Abend wieder hier. Trefft euch mit mir, kurz nachdem der Mond aufgegangen ist.«
Andreas hatte sich viel vorgenommen. Von dem wenigen Geld, dass sich noch in seinem Beutel befand kaufte er sich einen großen Eimer roter Farbe, einen Pinsel, ein Seil und eine Leiter. Dann begab er sich zum nahen Horizont.
Auf dem Gipfel eines Berges stellte er seine Leiter auf und wartete auf den Mond. Als dieser schließlich zu Beginn der nahenden Nacht aufging, legte Andreas ihm das Seil um, zog ihn etwas näher zum Boden und band ihn an einem Baum fest.
Mit dem Pinsel und Farbe malte er ein großes rotes Herz auf den Mond. Erst als er fertig war, band er seinen unfreiwilligen Helfer los. Der Mond konnte weiter in den Himmel aufsteigen.
Nun musste sich Andreas beeilen, denn seine Überraschung würde schon bald vom Bauernhof aus zu sehen sein. Er nahm seine Beine unter die Arme und lief so schnell er konnte zur schönen Bauerntochter.
Marie wartete schon. Sie hatte sich auf einer Wiese vor dem Haus einen Strohballen zurecht gelegt und wartete gespannt. Schließlich kam Andreas die Straße entlang. Er war völlig außer Atem. Langsam lies er sich neben seiner Angebeteten nieder und versprach ihr, sein Herz zu schenken, wenn sie es annehmen wolle. Es wäre das größte Herz, dass sie jemals zu Gesicht bekommen würde.
Marie schmunzelte nur.
»Ihr versprecht sehr viel. Ich hoffe, ihr könnt es halten, denn sonst seit ihr nicht viel besser als alle anderen.«
In diesem Moment kroch der Mond langsam über die Bergkuppe und gab das rote Herz frei. Es leuchtete über das ganze Land hinweg und war für jeden Menschen zu sehen.
»Liebste Marie, ich schenke euch mein großes Herz. In ihm ist nur Platz für euch und ich werde euch immer jeden Wunsch von den Augen ablesen. Wollt ihr meine Frau werden?«
Marie wurde ganz rot im Gesicht. Sie blickte kurz verlegen zu Boden, bevor sie Andreas in die Augen sah.
»Ja, ich will deine Frau werden.«
Sie gaben sich einen langen Kuss.
»Und das soll wirklich die Wahrheit sein?«, fragte Sofie.
Papa nickte schnell.
»Aber warum ist der Mond denn mal rot und mal weiß?«
Papa dachte nach. Schließlich hatte er eine passende Antwort gefunden.
»Noch heute gibt es immer wieder junge Männer, die den Mond für ihre Angebetete bemalen. Und wenn es dann regnet, wird er wieder weiß.
»Ach, Papa. Ich glaube dir kein einziges Wort. Aber das macht nichts. Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen.«
Sie kuschelte sich an Papa und sah dem Mond zu, wie er höher in den Himmel stieg.