Sofie wurde langsam ungeduldig. Sie hielt es in ihrem Kindersitz fast nicht mehr aus.
»Wann darf ich denn endlich aussteigen?«
Papa parkte das Auto, schaltete den Motor ab und drehte zu ihr um.
»Jetzt darfst du aussteigen.«
Sofort war die Freude groß. Sofie schnallte sich ab, öffnete die Tür und flitzte auf die Wiese, die nun vor ihnen lag. Papa war viel gelassener. Er schloss das Auto ab, holte einen großen Korb aus dem Kofferraum und schlenderte langsam hinter seiner Tochter her.
»Nun beeil dich doch. Ich habe einen riesigen Hunger. Du musst endlich das Picknick aufbauen.«
Sofie sah sich um und entdeckte einen großen Baum, der ihr gefiel.
»Dort hinten ist genug Schatten. Dort möchte ich sitzen.«
Gemeinsam setzten sie sich unter den Baum, breiteten eine Decke aus und verteilten Teller, Becher und Essen darauf.
»Mh, das sieht ja richtig lecker aus.«
Papa nickte nur, während gleichzeitig ein kleines Würstchen in seinem Mund verschwand.
»Aber Papa, du kannst doch nicht schon ohne mich anfangen. Ich möchte mich doch noch ein wenig umsehen.«
Überall auf der Wiese blühten Gänseblümchen, Butterblumen und Löwenzahn. Sofie drehte sich einmal im Kreis, um alles sehen zu können und aß dann auch etwas.
»Du Papa, woher hat die Butterblume eigentlich ihren Namen?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von den Butterblumen. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«
Es war einmal eine alte Bäuerin. Den ganzen Tag stand sie in der Küche stampfte mit einem langen Stock in einem schmalen Holzfass herum
»Was machst du denn da?«, fragte eines Tages ihr Enkelsohn.
Daraufhin erklärte sie ihm, dass sie in dem Fass aus Sahne Butter stampfen würde.
»Ist das denn nicht sehr schwer und mühsam?«, fragte der Jungs weiter.
Da musste die Bäuerin lachen.
»Das ist auch so. Aber du möchtest doch kein trockenes Brot am Abend essen.«
Lukas, der Enkel der Bäuerin nickte und verschwand anschließend zum Spielen in den Garten.
Der Garten war Lukas Lieblingsplatz. Er hielt sich in jeder freien Minute dort auf, streifte durch die Wälder und Büsche, die an den Hof grenzten und suchte immer wieder nach neuen Entdeckungen.
Auf etwas richtig Spektakuläres war er noch nie gestoßen. Doch das sollte sich noch an diesem Tag ändern.
Während er auf dem Ast eines hohen Baumes saß und auf einem Grashalm herum kaute, hörte er plötzlich ein paar leise Stimmen. Er sah sich schnell um, aber es war niemand zu sehen. Bildete er sich etwa ein, etwas gehört zu haben?
Doch da waren die Stimmen schon wieder. Lukas blieb nun ganz ruhig und versuchte heraus zu bekommen, was da vor sich ging, aber noch immer war kein Mensch zu sehen. Enttäuscht gab er auf und lehnte sich an den Baumstamm.
In diesem Moment wurde es Lukas schlagartig bewusst. Die Stimmen kamen aus dem Baumstamm. Irgendwer musste sich darin verborgen halten.
Sofort brach er einen Stock vom Baum ab und schlug damit immer wieder gegen den Stamm, bis schließlich ein Stück der Rinde heraus brach und ein Loch sichtbar wurde.
»He, wer ist denn da drin?«
Es kam keine Antwort. Die Stimmen waren mittlerweile alle verstummt.
»Ich weiß ganz genau, dass dort jemand ist. Ich habe euch gehört.«
Lukas riss weitere Teile der Baumrinde ab, bis er eine kleine Treppe sah.
»Hab ich es doch gewusst. In diesem Baum lebt jemand.«
Er öffnete den Baum immer weiter, fand kleine Räume mit Tischchen und Stühlchen. Aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis er auf die eigentlichen Bewohner des Baumes stieß.
Nach etwa einer halben Stunde hörte er leises Wimmern. Vorsichtig arbeitete er sich weiter vor, bis er schließlich eine Gruppe von kleinen Wichteln fand. Sie hatten lange Bärte und trugen gelbe Latzhosen. Und sie schienen sehr große Angst zu haben.
»Wer seid denn ihr da? Und was macht ihr in meinem Baum?«
Aber noch immer erhielt er keine Antwort. Die kleinen Wesen waren zu verschreckt.
»Habt doch bitte keine Angst. Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich erst gar nicht auf die Idee gekommen, nach euch zu suchen. Ich will euch doch gar nichts tun.«
Da erhob sich ganz langsam, wie in einer Zeitlupe, der Älteste der Wichtel.
»Wir sind nur ganz einfache Leute und leben schon seit ewigen Zeiten in den Bäumen dieser Umgebung. Wir gehen unserem Tagwerk nach und richten keine Schäden an. Bitte friss uns nicht.«
Lukas musste grinsen. Fressen? Nein, so etwas hatte er ganz bestimmt nicht vor.
»Es tut mir leid. Ich war einfach nur neugierig, weil ich eure Stimmen gehört hatte. Ich wollte euer Heim nicht zerstören.«
Er dachte kurz nach und sagte schließlich: »Wisst ihr was? Ich werde euren Baum wieder reparieren. Es soll kein Raubtier auf die Idee kommen, euch aufzufressen.«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, kletterte er den Baum hinab und flitzte in die Scheune.
Nach ein paar Minuten kam Lukas mit einer Tasche zurück. Er sammelte am Boden die Rindenstücke auf, die er bei seiner Suche hatte fallen lassen. Dann kletterte er wieder nach oben und begann sofort mit seiner Arbeit.
Aus der Tasche holte er ein Brett hervor und nagelte es vorsichtig auf den Baum. Mit einer kleinen Säge öffnete er aber dann doch ein Loch und bastelte noch etwas daran herum.
»Jetzt habt ihr sogar eine eigene Eingangstür. Und damit euch nicht noch einmal jemand entdeckt, werde ich noch die einzelnen Rindenstücke auf das Brett kleben. Dann sieht euer Baum so unbeschadet aus wie vorher.«
Den ganzen Nachmittag verbrachte Lukas nun mit seiner Arbeit und redete dabei viel mit den kleinen Wichteln. Er hörte viele Geschichten und erzählte mindestens genau so viele für seine neuen Freunde. Und immer wieder erzählte er von seiner Oma, die er sehr lieb hatte.
Schließlich neigte sich der Tag seinem Ende zu. Die Sonne sank herab und verschwand hinter dem Horizont. Es wurde dunkel.
»Ich muss jetzt nach Hause gehen. Meine Familie wartet bestimmt schon mit dem Abendessen auf mich.«
Er verabschiedete sich von den Wichteln und verschwand.
Am nächsten Morgen ging Lukas zur Oma in die Küche. Am heutigen Tag stampfte sie keine Butter. Sie saß nur sehr verwundert am Tisch und zog die Stirn kraus.
»Oma, was ist denn passiert? Du schaust so komisch aus der Wäsche?«
»Ach, Lukas.«, sagte Oma. »Das wirst du mir eh nicht glauben.«
Aber der Junge bettelte so lange, bis Oma alles erzählte.
In der Nacht war sich wach geworden und zur Toilette gegangen. Im Flur hatte sie das Gefühl gehabt, dass kleine gelbe Wesen über den Boden wuselten. Aber sie hielt es für einen Traum und achtete nicht weiter darauf.
»Und wie ich heute morgen in die Küche komme, hat doch tatsächlich schon jemand die ganze Butter für mich fertig gestampft. Kannst du dir das vorstellen?«
Lukas musste grinsen. Er wusste sofort, wer da geholfen hatte. Doch wie sollte er es seiner Oma erklären? Er wollte doch niemandem verraten, wer draußen in den Bäumen hauste.
»Oma, schau mal aus dem Fenster heraus. Siehst du die vielen kleinen gelben Blümchen auf der Wiese? In jeder von ihnen lebt eine kleine gelbe Elfe. Sie lieben es Butter zu stampfen. Und jedes Mal, wenn sie ein Butterfass entdecken, fangen sie an zu arbeiten. Aber das können sie nur in den Zeiten, wenn ihre Blumen blühen.«
Oma schaute verwirrt aus dem Fenster.
»Aha, Elfen sagst du. Wie heißen denn diese komischen Blümchen?«
Lukas überlegte schnell. Und dann schoss es aus ihm heraus: »Butterblumen natürlich.«
Jetzt lachten sie beiden und drückten sich.
»Na, du bist mir ja einer.«, sagte Oma.
»Und so entstand der Name der Butterblume.«
Sofie sah Papa mit großen Augen an und blickte dann auf die vielen gelben Blümchen auf der Wiese.
»Und die Oma hat ihm die Geschichte tatsächlich abgekauft?«
Papa zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall musste sie nun nie wieder Butter stampften, wenn draußen gelbe Blüten auf der Wiese zu sehen waren.«
Sofie musste lachen.
»Papa, ich glaube dir kein einziges Wort. Das hast du dir ganz bestimmt nur ausgedacht.«