»Du, Papa, wo kommt eigentlich der ganze Regen her?«
Papa drehte sich um und sah aus dem Fenster.
»Hm, das ist eine sehr gute Frage.«
Draussen vielen dicken Regentropfen vom Himmel herab. Schon seit Stunden hatte sich das Wetter nicht verändert. Große Pfützen hatten sich auf der Straße gebildet. Einfach nur ungemütlich. Aber insgeheim wünschte sie Sofie, dass sie mit Regenmantel und Gummistiefel nach draussen gehen dürfte. Es war immer ein riesigen Spaß, wenn man in die Pfützen hüpfen konnte.
Aber Mama hatte es verboten. Wie schnell hätte sie sich doch erkälten können.
»Was ist denn nun mit dem Regen?«, fragte Sofie erneut, als Papa nichts weiter sagte.
»Mir fällt da eine Geschichte ein, die mir mein Großvater erzählt hat. Sie klingt vielleicht etwas verrückt, aber jedes Wort davon ist wahr. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«
Es war einmal ein Schloss, das schwebte hoch oben in Himmel auf einer Wolke. Deswegen nannte man es auch das Wolkenschloss.
Im Wolkenschloss lebte ein König mit seiner Königin und der jungen Prinzessin Hydrania.
Sie war eine sehr stolze Prinzessin, bekam nur die erlesensten Speisen und empfing nur Gäste höchsten Ranges. Alles, was sie aß, wurde von den schönsten Adlern von der Erde geholt und unter größten Mühen in das Schloss geflogen.
Bedankt hatte sich die Prinzessin noch nie. Denn sie war es gewohnt, verwöhnt zu werden. Wollte man ihr mal einen Wunsch nicht erfüllen, landete man im Kerker.
Hydrania erfreute sich ihres Lebens und sonnte sich jeden Tag auf ihrem Balkon in der Sonne. Bis eines Tages etwas völlig Unerwartetes geschah.
Während sie in der Sonne lag, betrachtete sie sich in ihrem kleinen Handspiegel und kontrollierte ihre Haut, ob diese auch schön gleichmäßig braun würde. Doch an diesem Tag war sie etwas unvorsichtig. Der Spiegel rutschte ihr aus der Hand und fiel vom Balkon herab.
Der Spiegel fiel tief, sehr tief sogar. Er landete unsanft, aber in einem Stück auf einem Acker, nahe eines kleinen Dorfes.
Genau zu dieser Zeit kam Andreas vorbei. Er war der Sohn des Dorfschmieds. Er war ein heller Bursche, hatte immer Augen und Ohren offen und nahm alles wahr, das sich in seinem Umfeld tat.
Und so wurde er auch sofort aufmerksam für das Blitzen und Blinken des Gegenstandes, der das Licht der Sonne spiegelte.
»Nanu, was ist denn das?«
Der junge Bursche ging darauf zu und hob den Spiegel auf.
»Das ist aber ein schöner Spiegel. Er sieht so wertvoll aus, dass er nur einer Prinzessin gehören kann.«
Er steckte das gute Stück ein und machte sich auf den Weg zum König seines Landes. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass der Gegenstand woanders hin gehören könnte, da die Menschen noch nie vom Luftschloss gehört hatten.
Doch nachdem er vor dem König gesprochen hatte, stellte er fest, dass keine einzige Prinzessin oder hohe Dame am Hofe einen Spiegel vermisste.
Jedenfalls dachte er sich das. Er hatte aus guten Gründen das gute Stück nicht vorgezeigt, sondern gut in seiner Tasche verstaut. Die begierigen Prinzessinnen hingegen, waren gierig und wollten sich alles, was sie bekommen konnten, unter den Nagel reissen. Aber nachdem Andreas um eine Beschreibung des Spiegel bat, wurden die jungen Frauen stumm. Sie konnten also nicht die wahren Besitzer sein.
Und so zog Andreas von Land zu Land, von Schloss zu Schloss, ohne den Spiegel jemals abgeben zu können.
Währenddessen saß die Prinzessin des Himmels an ihrem Balkon und beobachtete, was sich unter ihr auf der Erde tat.
Sie trauerte ihrem Spiegel so sehr hinterher, dass sie dicke Tränen weinte, welche hinab fielen. So entstand der erste Regen.
Andreas hingegen wunderte sich während seiner Reise, weil zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, Wasser vom Himmel fiel. Es war sogar so viel, dass seine Kleidung bis auf die Haut durchnässte und alle Wege sich zu Matschpfaden verwandelten. So etwas hatte er noch nie erlebt. Denn jeden Tag gab es sonst nur Sonnenschein.
Hydrania sah jeden Tag ihren Spiegel. Sie sah, wie er von einem unwürdigen Menschen, der es in ihren Augen nicht wert war, ihn zu berühren, von einem Schloss zu anderen getragen wurde. Und mit jedem Tag wurde ihre Angst größer, dass er doch noch in die Hände einer anderen Prinzessin gelangen könnte.
Dadurch wurde die Trauer immer größer und sie weinte immer dickere Tränen.
Sie entschloss sich, etwas zu unternehmen. Sie sandte ihre Adler zur Erde und verlangte von ihnen, dass sie den Menschen ins das Himmelsschloss holen sollten.
Und so geschah es auch.
Andreas war erschrocken und erstaunt, als plötzlich große Vögel hinter ihm her jagten. Immer wieder attackierten sie ihn, bis schließlich einer von ihnen seine Krallen in das Hemd des Menschen schlug und ihn davon trug.
Hinauf ging es und immer höher. Andreas bekam es mit der Angst zu tun. Er war bisher nur auf niedrige Hügel geklettert. Und nun sah er seine Welt zum ersten Mal von oben. Und dann stießen sie durch die Wolken.
Vor ihnen lag das Luftschloss. Es schwebte auf der größten Wolke weit und breit. Dies musste das Ziel der Reise sein.
Andreas spürte, wie der Spiegel in seiner Tasche immer schwerer wurde. Er hatte das Gefühl, nun vielleicht am Ende seiner Suche angekommen zu sein. Doch dies würde sich noch heraus stellen.
Hydrania konnte es gar nicht mehr erwarten, ihren geliebten Spiegel wieder ihr Eigen nennen zu können. Sie trocknete sich die Tränen und lies den Menschen zu sich führen.
Ohne lange drum herum zu reden verlangte sie sofort, dass ihr der Spiegel ausgehändigt werden müsse. Doch Andreas lies sich nicht beirren. Er wollte das Kleinod niemand Falschem geben und verlangte eine Beschreibung.
Da wurde die Prinzessin zornig und wütend. Sie schrie so laut, dass man sie im ganzen Schloss hören konnte.
»So eine unglaubliche Unverschämtheit. So hat mich niemand zu behandeln. Wer glaubst du, dass du bist, dass du Forderungen an mich stellst. Ich bin die Himmelsprinzessin und verlange von dir, dass du mir sofort mein Eigentum zurück gibst. Sonst lasse ich dich einsperren und nehme mir den Spiegel einfach.«
Andreas war sprachlos. Er hatte nun mittlerweile viele Prinzessinnen gesehen. Doch diese war mit Abstand die Schlimmste von allen. Er entschloss sich, ihr einen Denkzettel zu verpassen, falls sie nicht gewillt war, den Spiegel doch noch zu beschreiben.
Er trat hinaus auf den Balkon und hielt die Tasche mit dem Spiegel über die Brüstung.
»Wenn es wirklich dein Spiegel ist und du ihn zurück willst, dann beschreib ihn mir. Ansonsten lasse ich ihn fallen und er wird für immer verschwinden.«
Blanker Hass spiegelte sich im Blick der Prinzessin wieder. Sie stürzte sich auf Andreas und wollte ihm die Augen auskratzen.
Dieser jedoch lies, wie angekündigt, die Tasche zur Erde fallen und sprang hinterher.
Durch den vielen Regen war der Boden völlig durchnässt und aufgeweicht. Die Tasche fiel in einer Pfütze auf dem Acker, auf dem der Spiegel bereits schon einmal gelegen hatte. Sie versank im Schlamm und verschwand.
Andreas landete etwas unsanft, aber mit heiler Haut, knapp daneben. So eine unverschämte Prinzessin hatte er noch nie erlebt. Es geschah ihr Recht, dass sie nun ohne ihren geliebten Spiegel würde leben müssen.
Er machte sich auf, zurück in das Dorf und suchte sich eine Arbeit.
Hydrania hingegen konnte noch immer nicht glauben, was geschehen war. Bisher hatte jeder getan, was sie verlangte. Jeder andere hätte ihr den Spiegel sofort gegeben. Nur dieser unverschämte Bursche nicht.
Nun weinte sie wieder bittere Tränen.
Papa räkelte sich in seinem Sessel und trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
»So ist der Regen entstanden.«
Sofie überlegte.
»Aber wie kommt es, dass es dann nicht jeden Tag rund um die Uhr regnet? Schließlich hat die Prinzessin ja immer noch nicht ihren Spiegel zurück.«
Papa schmunzelte, dachte kurz nach und antwortete schließlich nach einem weiteren Schluck aus der Tasse.
»Nun, die ganze Sache ist natürlich schon lange her. Und die Prinzessin hat sich daran gewöhnt, ohne ihren Spiegel leben zu müssen. Nur manchmal erinnert sie sich noch an das Geschehene und dann fängt sie wieder an zu weinen.«
Sofie lachte. »Papa, ich glaube dir kein Wort.«