»Weil Nellie mir nicht geschrieben hat. Ich habe sie so herzlich zu unsrem Erntefeste eingeladen und sie hat mir keine [pg 247]Antwort darauf gegeben. Heute sind es sechs Tage, daß ich ihr schrieb.«
»Sie wird keine Erlaubnis erhalten haben, Kind. Du zweifeltest selbst daran, hast du das vergessen? Es wird ihr sehr schwer werden, dir der Vorsteherin abschlägige Antwort mitzuteilen. Oder sollte sie dich heute unangemeldet überraschen?«
»Das wäre famos, himmlisch! Gontraus und Nellie hier – dann wären alle meine Wünsche erfüllt! Aber daran ist nicht zu denken, Fräulein Raimar erlaubt das auf keinen Fall. Nellie muß immer lernen und immer lernen. Ach Mama! Es muß furchtbar schrecklich sein, eine Gouvernante zu werden! Findest du nicht auch?«
Frau Anne versuchte, Ilse von ihrem Vorurteile zu heilen, aber vergeblich. Sie blieb dabei, Gouvernanten könnten nur alte Mädchen werden und ihre Nellie passe gar nicht dazu.
Plaudernd und singend hatte Ilse endlich sämtliche Vasen gefüllt und auf der Tafel verteilt. Sie stand noch bewundernd vor ihrem Werke, als die Mutter sie antrieb, sich anzukleiden.
»Es ist hohe Zeit, Ilse, wir müssen uns eilen, in einer Stunde wird Papa mit Gontraus zurück sein.«
Wie ein Vogel flog Ilse die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Kaum hatte sie indessen mit ihrer Toilette begonnen, als ihr die Magd einen Brief überbrachte, den der Briefträger soeben für sie abgegeben hatte. Er war von Nellie. Sie erbrach ihn sofort und las.
Die ersten Worte schon brachten sie in eine lebhafte Aufregung, kaum vermochte sie weiter zu lesen. Mit stockendem Atem überflog sie die Zeilen, und als sie zu Ende war, eilte sie mit dem Briefe hinunter in der Mutter Gemach. Sie hätte es nicht ausgehalten, die wichtige Neuigkeit, die sie eben erhalten, länger für sich zu behalten.
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»Mama!« rief sie ganz atemlos, »ein Brief von Nellie! Ich muß ihn dir vorlesen!« – Und sie begann:
»Mein süß Ilschen!
»Ich bin eine Braut! O! und ein sehr glückliches Braut! Errätst Du, mit wem? Ja? O Ilse, Doktor Althoff ist meiner liebe, liebe Schatz! Ich möchte gleich Deine liebes Gesicht schauen, wenn Du diese groß Ereignis liest, ich sehe, wie Du Dein braun Lockenkopf schüttelst und höre Dir rufen: ›Nellie will mir pfoppen!‹ Aber nein, sie pfoppt Dir nicht, alles, was sie heute schreibt, ist wahr. Du sollst alles wissen, meine liebe Freundin, ich will erzählen, wie es kam. O, es ist ein schwer’ Aufgabe für mich, – ich bin so zerwirrt vom Glück und ich finde mir so schlecht zurecht mit der deutsch Sprache. Du mußt Geduld mit Dein Nellie haben, die eigentlich sehr dumm ist! Ich schäm’ mir, Ilse, wenn ich denke an mein furchtbaren Dummheit. Es ist mir ein Rätsel, wie Alfred mir lieb haben kann. – Doch still darüber. – Höre weiter.