»Warum nicht? Haben die Juristen ein besonderes Aussehen?«
Diese Frage brachte sie etwas in Verlegenheit. Sie hätte ihm keine andre Antwort daraus geben können, als daß die Juristen, die öfters auf Moosdorf zu Gaste kamen, ganz anders ausschauten. Es waren lustige Herren, die gerne ein Glas Wein liebten, aber jung und schön waren sie nicht. Sie sah ihn an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie sind nicht Jurist,« widerstritt sie.
»Nun, ich bin doch neugierig, wofür Sie mich halten,« fragte er höchst amüsiert, »jetzt legen Sie eine Probe von Ihrer Menschenkenntnis ab!«
»Sie sind Künstler – vielleicht Musiker – oder Maler?«
Er lachte laut. »Musiker!« rief er, »ich ein Musiker! Wenn Sie wüßten, gnädiges Fräulein, welch ein großes Wort Sie gelassen aussprachen! Ich verstehe keine Note und bin so unmusikalisch wie ein Stock! Es thut mir leid, daß ich Ihre für mich so schmeichelhafte Illusion zerstören muß, indes was kann es helfen! Ich muß mich Ihnen leider als ein ganz gewöhnliches Menschenkind vorstellen, das weder Maler noch Musiker ist. Trotz Ihres Zweifels bin ich Jurist und seit vier Wochen Assessor. Sind Sie nun überzeugt?«
»Also kein Künstler, ach, wie schade!« sprach Ilse bedauernd. »Es müssen doch reizende Menschen sein!«
»Nicht immer,« wollte er sagen, doch that er es nicht. Warum ihre naiven Anschauungen zerstören? Sie war noch so jung und sah so gläubig aus.
»Sehen Sie dort die Kirchturmspitze?« brach er das Gespräch ab, »die Wetterfahne darauf glänzt hell im Mondenscheine, das ist die Kirche von Lindenhof! In zehn Minuten sind wir dort.«
Als der Wagen vor dem Portale des Hauses hielt, trat Frau Gontrau schnell auf denselben zu, um ihren kleinen Gast [pg 232]in Empfang zu nehmen. Als das erwachsene Mädchen dafür ausstieg und Leo den Irrtum erklärte, nahm sie dasselbe lachend in den Arm.
»Ob groß, ob klein,« sagte sie mit Wärme, »Sie sind mir von Herzen willkommen!«
Und sie führte Ilse in das Speisezimmer, in welchem sich der Landrat befand. Er saß in halbliegender Stellung auf dem Sofa und streckte dem jungen Mädchen beide Hände entgegen.
»Das ist eine kostbare Ueberraschung!« rief er aus, »eine kostbare Ueberraschung! Anstatt des Kindes kommt eine junge Dame an! Hat uns Freund Macket mit Absicht getäuscht?«
Ilse lachte und zeigte die weißen Zähne.
»Wie Sie dem Papa ähnlich sehen!« fuhr er lebhaft fort, »derselbe Mund, die Zähne, das Kinn, es ist auffallend!« Er schob die Lampe näher zu ihr, damit er sie noch besser betrachten könne. »Das Haar haben Sie von der Mutter geerbt, auch die braunen Augen, das heißt nur in Farbe und Schnitt. Der Ausdruck der Ihrigen ist lebhafter, er verrät nicht das sanfte Taubengemüt der seligen Mama. Können Sie zornig blicken?« fragte er scherzend.
»Aber lieber Mann,« unterbrach ihn Frau Gontrau lachend, »erst stellst du ein peinliches Examen mit dem Aeußeren unsres lieben Gastes an, nun gehst du auch noch auf die Charaktereigenschaften über! – Kommen Sie, liebes Kind, ich will Sie erlösen. Ich werde Sie auf Ihr Zimmer führen, damit Sie sich von der langen Reise etwas erfrischen können. Ich habe Sie dicht neben mein Schlafzimmer einquartiert, die Fremdenzimmer liegen eine Treppe höher, und ich dachte, die Kleine fürchte sich, allein dort zu schlafen.«