Ilse bejahte. »Hier ist mein Papa,« fuhr sie fort und holte sein Bild aus dem Saffiantäschchen. Was war natür[pg 217]licher, als daß sie bei dieser Gelegenheit erzählte, daß ihr das Bild zum Erkennungszeichen dienen solle, wenn Gontraus sie empfangen würden.
»Gontrau?« fragte die alte Dame, »Landrat Gontrau? Das sind ja liebe Bekannte von mir. Mein Mann, Sanitätsrat Lange, ist seit langen Jahren Arzt in ihrem Hause! Wir wohnen in L., das ist die nächste Station von Lindenhof. Wie sich das wunderbar trifft! Nun stecken Sie das Bild Ihres Papas nur getrost ein, wir haben es nicht mehr nötig; jetzt werde ich Sie meinen Freunden zuführen! So viel Zeit habe ich bei meinem kurzen Aufenthalte!«
Ilse war sehr erfreut über diesen wunderbaren Zufall, und im Geplauder mit der liebenswürdigen, feingebildeten Frau Rat verging ihr die Zeit mit Windesschnelle. Sie war ganz erstaunt, als der Schaffner das Koupee öffnete und hineinrief: »Station M.! Sie müssen aussteigen, meine Damen!«
»Schon!« rief Ilse und griff nach ihren Sachen.
Frau Rat hatte sich auch erhoben und suchte ihr Handgepäck zusammen. Es geschah alles mit ängstlicher Hast, ihre Hände zitterten etwas in nervöser Aufregung. Eine Ledertasche, die sie von oben herabnahm, entfiel ihrer Hand. Das Schloß an derselben sprang auf und verschiedene kleine Gegenstände kollerten auf den Boden.
»O Gott!« rief sie erschrocken, »was habe ich da gemacht!« – Sie wollte sich bücken und ließ eine Schachtel dabei fallen.
»Bitte, lassen Sie mich alles besorgen!« beruhigte sie Ilse. Schnell hatte sie alles aufgesucht und wieder in die Tasche gethan. Das Portemonnaie der Frau Rat, das sich ebenfalls unter den herausgefallenen Dingen befand, steckte sie tief hinein in die Tasche, verschloß dieselbe vorsichtig und gab sie der geängsteten Dame in die Hand.
[pg 218]
»So,« sagte sie, »nehmen Sie das an sich, für Ihre übrigen Sachen werde ich Sorge tragen.«
Sie legte sämtliches Handgepäck zusammen auf den Sitz, stieg dann hinaus, ließ sich dasselbe von der Dame zureichen, übergab es einem bereitstehenden Packträger und half endlich der Frau Rat vorsichtig die hohen Stufen hinabsteigen.
»Danke, danke, liebes Kind,« sagte diese. »Wie umsichtig und verständig Sie alles besorgen! Ich hätte das bei Ihrer Jugend kaum erwartet.«
Ilse wunderte sich selbst darüber, wer weiß aber, ob ihre Selbständigkeit sich so plötzlich entwickelt hätte, wenn die hilflose Art und Weise ihrer Begleiterin dieselbe nicht herausgefordert hätte. – Ganz stolz hob sie den Kopf bei diesem Lobe und wünschte: wenn Fräulein Güssow doch gleich dasselbe hören könnte! Sie hatte so große Besorgnisse gehabt, und jetzt war sie Beschützerin, anstatt daß sie beschützt wurde! – Es war wirklich ein recht erhebendes Gefühl für sie, leider nicht von langer Dauer!
Als sie mit Frau Rat langsam dem Stationsgebäude zuschritt, hörte sie laute Zurufe aus einem Koupee des noch haltenden Zuges. Ein flüchtiger Blick und sie hatte sofort die Studenten erkannt. Ganz ängstlich ergriff sie den Arm der Dame, denn in diesem Augenblick war all ihre frohe Sicherheit geschwunden und sie fühlte sich recht eines Schutzes bedürftig.
»Leb wohl – leb wohl – du süße Maid! – Nur einen Abschiedsblick, reizendes Lockenköpfchen!« riefen die Uebermütigen, und als der Zug schon im Weiterfahren war, warf einer von ihnen ihr eine herrliche Rose zu, sie fiel gerade zu ihren Füßen.
Ilse wandte sich ab, sie wußte vor Scham und Verlegenheit nicht, wohin sie den Blick wenden sollte.