»O Ilse,« unterbrach Nellie mit einem Seufzer die feier[pg 201]liche Stille, »wie bald gehst du fort und läßt mir allein zurück! Ich bin sehr traurig, wenn ich daran denke!«
Auch Ilse war wehmütig und der Gedanke, von Nellie scheiden zu müssen, machte ihr das Auge feucht. Aber sie unterdrückte mutig die weiche Stimmung und versuchte, die Freundin zu trösten. »Es ist noch lange hin, bis ich die Pension verlasse,« sagte sie, »du weißt ja, daß meine Eltern meinen Aufenthalt bis zum ersten September verlängerten. Noch acht Wochen sind wir beisammen, Nellie, das ist noch eine sehr lange Zeit, denk’ einmal, acht volle Wochen!«
Nellie schüttelte traurig den Kopf. »O nein, es ist nur sehr kurze Zeit,« erwiderte sie, »es sind auch nicht acht Wochen voll, du mußt ordentlich rechnen. Heute haben wir schon der siebente Juli, – macht bis zu der erste September vierundfünfzig Tage – fehlt also zwei volle Tag an der achte Woch –«
Trotz ihres Kummers mußte Ilse lachen. »Du liebe, süße Nellie,« rief sie und küßte diese herzlich auf den Mund, »du bist doch immer komisch, selbst wenn du traurig bist! Weißt du, wir wollen uns das Herz nicht heute schon schwer machen mit dem Gedanken an unsre Trennung, wir gehen ja nicht für immer auseinander! Du besuchst mich bald, – ja?«
Aber Nellie war einmal weich gestimmt heute abend und der Freundin Trost fand keinen Eingang in ihrem Herzen. Sie versuchte zwar die Thränen zu unterdrücken, aber sie brachen immer neu hervor. Ilse lehnte den Kopf an ihre Schulter und schwieg. In ihrem Innern kämpften der Schmerz und die Freude. Sie hätte so gern sich auf das Wiedersehen ihrer Lieben, besonders des kleinen Brüderchens, gefreut, sie vermochte es nicht ungetrübt, weil der Abschied von Nellie dazwischen stand. –
»Hier sind sie! Kommt, hierher! Sie sitzen beide unter dem Holunderbusch!«
[pg 202]
Keine andre als Grete war es, die durch ihren lauten Ruf die Träumenden aufschreckte. Unbemerkt war sie aus einem Seitenweg hervorgetreten und stand nun wie aus der Erde gewachsen vor ihnen.
Ilse sprang auf und trat den andern Mädchen, die herbeigeeilt kamen, entgegen. Nellie trocknete verstohlen ihre Thränen und machte wieder ein heitres Gesicht.
»Wir haben euch überall gesucht,« sagte Orla, »was macht ihr denn hier?«
»Ich glaube wahrhaftig, ihr schwärmt im Mondenschein, Kinder,« lispelte Melanie, »ihr macht so furchtbar schmachtende Augen alle beide, habt ihr geweint?«
Grete mußte sich hiervon genau überzeugen, sie trat zu Nellie und sah sie neugierig prüfend an. »Du hast geweint, Nellie – und du auch Ilse –« behauptete sie entschieden. »Was habt ihr denn? Warum weint ihr?«
»Um nix!« entgegnete Nellie ärgerlich über die unzarte Grete.
»Um nichts weint man doch nicht,« fuhr dieselbe unbeirrt fort, »bitte, sagt es doch, warum ihr geweint habt.«
»Laß deine zudringlichen Fragen,« verwies sie Flora, »und wenn sie dir sagen würden: ›Der silberne Mond, die duftenden Rosen, der entzückende Sommerabend, so recht zur Liebe und Traurigkeit geschaffen, haben unsern Herzen Wehmut und Thränen entlockt,‹ – würdest du das verstehen? Niemals! Denn du hast keinen Sinn für die höhere Sphäre – du bist zu prosaisch!« Sie begleitete ihre Worte mit einem schwärmerischen Aufschlag ihrer wasserblauen Augen.