»Wie taktlos von dir!« redete Miß Lead, die ihren Platz dicht hinter Nellie hatte, dieselbe an und riß sie mit ihrer scharfen Stimme aus allen Himmeln. »Welch ein Betragen! Ich habe jedes Wort mit angehört. Schämst du dich nicht, einem Herrn Blumen anzubieten?«
Als ob ein eisiger Wind plötzlich in eine kaum erschlossene Blütenknospe gefahren wäre, so wurde Nellies kurze Freude zerstört.
»Habe ich ein Unrecht gemacht?« fragte sie geängstigt. »O bitte, Miß, sagen Sie, war ich ungeschickt? Wird Herr Doktor mich für unbescheiden halten?«
Dieser Gedanke peinigte sie sehr und übergoß sie mit heißer Glut. Mit wahrer Angst wartete sie auf ein beruhigendes Wort und sah in der Lehrerin Gesicht, das indes nicht aussah, als ob sie zur Milde geneigt sei.
»Jedenfalls wird er dich für sehr einfältig halten,« erwiderte sie unbarmherzig, »wenn er nicht vielleicht deine Handlungsweise zudringlich nennt.«
»O nein, nein!« rief Nellie beinahe entsetzt, »er wird nicht so hart von sein Schüler denken!«
»So, weißt du das so bestimmt?« quälte Miß Lead sie weiter, »du bist kein Kind mehr, dem man allenfalls dergleichen Taktlosigkeiten vergiebt, ein erwachsenes Mädchen darf niemals blindlings seinem Gefühle folgen!«
»Ich will bitten, daß er mir die Blumen wiedergiebt,« sagte Nellie tief beschämt.
»Das darfst du nicht, wenn du dich nicht noch mehr bloßstellen willst. Du wirst schweigen und dich niemals wieder vergessen! Eine zukünftige Gouvernante muß jedes Wort, jeden Blick, und vor allem jede Handlung reiflich überlegen. Das merke dir!«
Traurig sah Nellie nach diesem harten Verweise zu Boden. Dahin war ihre fröhliche Laune, sie hatte keine Lust mehr an dem Feste. Eine heiße Thräne tropfte ihr aus dem [pg 200]Auge und fiel auf die Veilchen, die Urheber ihres Kummers. Sie brannten ihr förmlich in der Hand und am liebsten hätte sie dieselben weit von sich geschleudert. Still und einsilbig blieb sie den ganzen Abend, und sobald Doktor Althoff in ihre Nähe kam, wich sie ihm ängstlich aus. Es war ihr unmöglich, ihm in das Auge zu blicken. Miß Lead hatte ihre frohe Unbefangenheit zerstört.
Als die Freundinnen sich nach dem Feste zur Ruhe begaben, saß Nellie ganz gegen ihre Gewohnheit noch einige Zeit sinnend da. »Du bist so still,« fragte Ilse, »was hast du?«
»O nichts, nichts!« erwiderte Nellie schnell und erhob sich aus ihrer träumenden Stellung, »es ist gar nix!«
Zum ersten Male verschwieg sie der geliebten Freundin die Wahrheit, sie vermochte es nicht, über ihren Kummer zu reden, und doch – was war es, das trotz allen Kummers ihr Herz schneller klopfen ließ und wie ein Frühlingswehen durch ihre Seele zog?
* * *
Holunder und Maiblumen hatten ausgeblüht und die Rosen öffneten ihre duftigen Kelche. Nellie und Ilse wandelten nach dem Abendessen durch den Garten, und als sie im Gebüsch die Nachtigall schlagen hörten, blieben sie stehen und lauschten.
»Wie süß!« rief Nellie, »komm, laß uns auf der Bank setzen und lauschen.«