»Verzeihen Sie,« sagte sie befangen und trat bescheiden zurück. Aber Fräulein Raimar schnitt ihr das Wort ab und nahm sie noch einmal herzlich in den Arm.
»Komm her, mein Kind,« sagte sie warm, »und laß mich die erste sein, die dir von ganzem Herzen Glück wünscht.« – Später äußerte sie gegen Fräulein Güssow, daß Ilses strahlende Freude ihr so recht den Beweis für deren kindlich unbefangenes Herz gegeben habe. Anfangs habe sie nicht geglaubt, daß Ilses trotzige Natur sich jemals zügeln lassen werde.
Der Brief an Ilse war nur kurz und von der Mutter schon vor mehreren Tagen an sie geschrieben. Der Papa trug an der Verzögerung schuld, er hatte noch einige Zeilen hinzufügen wollen und war nicht gleich dazu gekommen.
»Lies erst, was sie schreibt!« bat Nellie, zu der Ilse jubelnd in das Zimmer gestürzt war, »lies erst, nachher sprechen wir von die Baby.«
Und Ilse las:
»Mein teures Kind!
Dein letzter Brief hat mich sehr glücklich gemacht! Ich kann den Augenblick kaum erwarten, wo ich Dich an mein Herz nehmen darf, um Dir mit einem herzlichen Kuß zu sagen, daß ich Dir niemals böse war. Ich wußte immer, daß mein Trotzköpfchen schon den Weg zu mir finden werde. Mache Dir nur keine Sorgen um vergangene kleine Sünden, sie sind längst in alle Winde verweht, denke lieber an die zukünftige Zeit, in der wir wieder beisammen sind, und male sie Dir so rosig aus, wie Deine junge Phantasie es nur zu thun vermag. Ich habe Dich sehr, sehr lieb! Mit zärtlichen Küssen
Deine Mama.«
Und der Papa hatte gestern flüchtig dazu geschrieben:
»Hurra! Wir haben einen prächtigen Jungen! Ich [pg 183]habe nur den einen Wunsch, ihn Dir, mein Kleines, gleich zeigen zu können. Er sieht Dir ähnlich, hat gerade so lustige, braune Augen wie Du! Morgen schreibe ich Dir mehr.«
»O!« jammerte Ilse unter Lachen und Weinen, »wenn ich doch gleich dort sein könnte! Ich habe so große Sehnsucht, die Mama, den Papa und das kleine Brüderchen zu sehen!« Dabei umarmte und herzte sie Nellie, und als Fräulein Güssow hinzutrat, fiel sie auch dieser um den Hals. Sie hätte in ihrer Seligkeit am liebsten die ganze Welt umarmt! –
Am Nachmittag, als der erste Freudenrausch sich gelegt hatte, kehrten Ilses Gedanken zu der verstorbenen Lilli zurück. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie deren Andenken heute so ganz vergessen konnte!
»Komm, Nellie,« sagte sie, »laß uns im Garten Veilchen pflücken zu einem Kranz auf Lillis Grab.«
Fräulein Güssow stimmte diesem Vorschlage bei und begleitete gegen Abend die Freundinnen hinaus auf den stillen [pg 184]Friedhof. Ilse beugte sich nieder und legte den Kranz auf den frischen Grabhügel. Noch lagen die vielen andern Kränze von dem Begräbnisse darauf, aber sie waren verwelkt und trocken, und in den langen, weißen Atlasbändern spielte der Abendwind. –
Die Tage kamen und gingen, und das Osterfest war vor der Thür. Die Prüfungen waren bereits vorüber, und die ausgeteilten Zeugnisse hatten Freude oder Kummer hervorgerufen, je nachdem sie für die Betreffenden ausgefallen waren. Ilse konnte zufrieden sein. Mit Ausnahme einzelner Fächer, bei denen obenan das Rechnen stand, hatte sie sehr gute Fortschritte gemacht. Ihr ernstes Streben, ihr Betragen, das besonders seit dem Tode Lillis tadellos geworden war, wurde von ihren Lehrern und Lehrerinnen rühmend hervorgehoben, nur die englische Lehrerin schloß sich dieser Ansicht nicht an. Sie blieb bei ihrem Vorurteile und fand, daß Ilse nach wie vor ohne jede Manier und Grazie sei, auch tadelte sie sehr ihre englische Aussprache.
»Laß dir nix vormachen, Ilse,« sagte Nellie, als sie allein waren. »Du sprichst schon ganz nett englisch und drückst dir stets sehr fein aus. Uebrigens tröste dir mit mir, sieh, was sie hier geschrieben haben,« – und sie reichte betrübt der Freundin ihr Zeugnis, und Ilse las: Besondere Bemerkung: ›Nellie macht sehr langsame Fortschritte in der deutschen Sprache.‹ – »Ist das nicht unrecht?« fragte sie. »Ich gebe mich so furchtbar große Mühe mit eure schwere Sprache.«