»Sie fühlte sich glücklich und heimisch bei uns,« entgegnete Fräulein Raimar tief ergriffen. »Die eigentliche Heimat war [pg 178]ihr fremd geworden. – Sie hat nicht einmal nach der Mutter verlangt.«
»Wie sanft sie schlummert, als ob sie leben und atmen müßte. O, sie ist glücklich!« Und in einem plötzlich überwallenden Gefühle beugte sich die junge Lehrerin laut weinend über Lilli und küßte ihr die kalte Stirn. »Schlaf wohl, schlaf wohl, teures Kind! Gott hatte dich lieb, darum nahm er dich zu sich!«
»Fassen Sie sich, liebe Freundin,« ermahnte Fräulein Raimar, indem sie die Hand auf der Erregten Schulter legte, »uns bleibt jetzt die schwere Aufgabe, die Kinder mit dem traurigen Ausgang bekannt zu machen. So ruhig als möglich müssen wir ihnen diese Mitteilung machen, damit die ohnehin erregten Gemüter nicht ganz außer Fassung kommen.«
Aber sie kamen doch außer Fassung, besonders Ilse, deren lebhafte Natur sich dem Schmerze zügellos hingab. Sie glaubte vergehen zu müssen. Noch nie hatte sie sich so unglücklich gefühlt, als in der ersten Nacht nach Lillis Tode, selbst damals nicht, als sie den Wagen fortfahren sah, der den geliebten Vater entführte, und sie fremd und verlassen an der Pforte dieses Hauses stand.
* * *
Lilli war in die Erde gebettet. Unter Schneeglöckchen und Veilchen schlummerte sie. Der kleine Sarg war mit den holden Frühlingskindern über und über bedeckt gewesen. Tief betrauert wurde das kleine Wesen von allen, die mit ihm in nähere Berührung gekommen, und es hatte allgemein schmerzliche Verwunderung erregt, daß die Mutter fern geblieben war.
Am Todestage Lillis war ein Telegramm angekommen, worin sie meldete, daß sie erst am Dienstag abend eintreffen könne. Es sei ihr unmöglich, früher zu kommen, da sie am Montag in einem neuen Stücke die Hauptrolle zu spielen habe. [pg 179]Als ihr an diesem Tage der Tod ihres Kindes gemeldet wurde, kam umgehend ein Brief voll überschwenglicher Klagen, aber sie blieb fern. Kostbare Blumen hatte sie gesandt, auch der Vorsteherin den Auftrag gegeben, ein Marmormonument, einen knieenden Engel darstellend, für des Kindes Grab anfertigen zu lassen, mit goldenen Buchstaben solle auf dem Sockel eingegraben werden: ›Teures Kind, bete für mich.‹
Aeußerlich war somit alles geschehen, aber das Herz blieb kalt bei diesen pomphaften Kundgebungen.
»Meine Mama wäre gekommen, wenn sie mich sterbenskrank gewußt hätte,« bemerkte Ilse, als sie Nellie den Brief vorlas, den ihr die Mutter so herzlich und tröstend geschrieben hatte.
»O sicher, sie wär von der Welten Ende zu dich gereist,« beteuerte Nellie lebhaft.
»Und sie ist nicht einmal meine rechte Mutter,« fuhr Ilse nachdenklich fort. »Ach Nellie, ich habe sie oft recht sehr gekränkt! Glaubst du wohl, daß sie mir vergeben wird?«
Ilses Herz war so weich und empfänglich durch den Schmerz geworden und eine ernste, weihevolle Stimmung durchdrang ihr ganzes Wesen. Nie waren ihr bis dahin ähnliche Gedanken gekommen, und wäre es der Fall gewesen, hätten sie früher einmal bei ihr angeklopft, sie würden keinen Einlaß gefunden haben. Heute war es anders, sie hatte das Bedürfnis, sich gegen ihre Herzensfreundin auszusprechen und sich anzuklagen.
»O mach dich kein Kummer darum, Kind. Deine Mutter hat ein so liebesreiche Herz, kein Titelchen Bosheit für dir ist darin. Sie vergebt dir alles. Du warst ja auch noch ein ungezogen, dumm’ Baby, als du bei sie warst, jetzt aber bist du eine sehr anständige (sie meinte verständige) junge Dame.«