Zögernd entschloß sie sich dazu, und als sie ein reizendes, kleines Toilettekissen höchst künstlich verborgen entdeckte, söhnte sie sich einigermaßen mit der bösen Nellie aus.
Aber nicht Flora allein, auch all die übrigen mußten manche kleine Neckerei in den Kauf nehmen, so manche schwache Seite wurde an das Tageslicht gefördert und schonungslos gegeißelt. Die Vorsteherin wachte darüber, daß diese Reibereien stets in den Grenzen des Scherzes blieben; im allgemeinen hielt sie dieselben für ein gutes Mittel, sich gegenseitig auf die Fehler aufmerksam zu machen, es half oft mehr als alle ernsten Ermahnungen.
Nellie stand vor einem großen Berg Eßwaren, die sie aus ihren Paketen, in welchen sie außer einem kleinen Geschenke immer noch nebenbei allerhand Süßigkeiten fand, herausgewickelt hatte.
Schokolade, Marzipan, Apfelsinen, Rosinen und Mandeln, Lebkuchen, und in einem reizenden Kasten von Porzellan zwei saure Gurken. Diese waren eine besondere Lieblingsspeise von ihr.
Sie lachte und fragte, ob sie ein so hungrig Mädchen sei. »O, da ist ja noch ein Paket,« fuhr sie fort, »was für ein leckerer Bissen wird wohl darin sein?«
Aber sie irrte sich, diesmal kam ein Buch zum Vorschein und wie sie es aufschlug, las sie auf dem Titelblatte: »Deutsche Grammatik.« Ein Blatt Papier mit einem kleinen Gedichte lag dabei. Nellie las es vor.
»Lerne fleißig die deutsche Sprache –
Willst du begreifen holde Poesie.
Dies Buch ist einer Verkannten Rache,
Die du verstanden hast noch nie!«
»Flora!« rief Nellie. »Du hast mir mit deine edle Rache sehr beschämt! Ich werde lernen aus dieser Buch und dir verstehen! – Komm, gieb dein’ Hand, ich verspreche dich, [pg 141]daß ich nie wieder dein’ holde Poesie auslachen will, und wenn sie voll lauter zerbrochene Herzen ist.« –
Orla hatte unter anderm einen Klemmer erhalten und – o Schrecken! auch ein Etui mit Cigaretten. Fräulein Raimar stand neben ihr und sah das verräterische Ding.
»Was ist denn das?« fragte sie. »Ich will nicht hoffen, Orla, daß du wie eine Emanzipierte rauchst! Du würdest mich sehr erzürnen, wenn das der Fall wäre. Doch,« unterbrach sie sich, »wie komme ich dazu, einen Scherz für Ernst zu nehmen, am Weihnachtsabend sind dergleichen Witze erlaubt.« Leiser und nur für die Russin vernehmbar setzte sie hinzu: »Ich habe das feste Vertrauen zu dir, daß du niemals rauchen wirst!«
Die Angeredete schwieg und senkte die Augen. Der Tadel traf die Wahrheit, sie hatte wirklich manchmal im Verborgenen eine Cigarette geraucht. War es doch in ihrer Heimat nichts Auffallendes, wenn eine Dame sich ein kleines Rauchvergnügen machte.
Innerlich schalt sie die Pedanterie der Deutschen, der sie eine so harmlose Freude zum Opfer bringen mußte, denn niemals würde es ihre Wahrheitsliebe gestattet haben, gegen das Verbot der Vorsteherin zu sündigen, – mit einiger Ueberwindung reichte sie derselben die Cigaretten.
»Bitte, bewahren Sie mir dieselben,« bat sie und lächelnd fügte sie hinzu: »Damit ich nicht in Versuchung komme ...«
Melanie liebäugelte mit einem zierlichen Handspiegel. Sie freute sich sehr über denselben, noch mehr aber über ihr eignes Bild, das ihr entgegenlachte.