Ilse horchte auf. Einen schnellen, fragenden Blick warf sie der jungen Lehrerin zu und diese antwortete mit einem geheimnisvollen Lächeln.
»Wer weiß!« fuhr sie fort, »sieh einmal nach, vielleicht hat eine gütige Fee dir etwas beschert.«
Ilse erhob sich schnell aus ihrer knieenden Stellung und nahm die Freundin unter den Arm. »Komm,« sagte sie, »wir wollen suchen.«
Kiste an Kiste stand da in der Reihe, jede indes war bereits in Besitz genommen, Ilses Auge aber flog voraus. Sie hatte am Ende des Saales eine herrenlose Kiste entdeckt, dorthin zog sie Nellie.
Und richtig, da stand mit großen Buchstaben auf dem Deckel: »An Miß Nellie Grey.« – Es war kein Zweifel, die Adresse lautete an sie.
»O, was ist dies!« rief Nellie überrascht und ihre Wangen röteten sich, »wer hat an mir gedacht? Ist es gewiß für mir?«
»Ja, sie ist wirklich für dich,« versicherte Ilse strahlend, denn nun hatte sie erst die echte Weihnachtsfreude, »nimm nur den Deckel hoch.«
Immer noch etwas zögernd folgte Nellie dieser Aufforderung. Welche Ueberraschung! Da lag obenauf ein gleicher Stoff in blaßblau, wie sie soeben denselben in rosa bei Ilse bewundert.
Und wie sie nun weiter auspackten, jetzt eine jede ihre eigene Kiste, da hielten sie sich jubelnd stets die gleichen Herrlichkeiten entgegen. Bald war es eine gestickte Schürze, dann kamen farbige Strümpfe an die Reihe, Handschuhe, sogar die Korallenkette, die schon lange ein sehnlicher Wunsch Ilses war, fehlte bei Nellies Bescherung nicht. Auch die vielen Leckereien waren gleichmäßig verteilt.
Ilse hatte in einem Karton mit Briefpapier einen langen [pg 137]zärtlichen Brief der Eltern gefunden und als Nellie den ihrigen öffnete, lag auch für sie ein kleines Briefchen darin.
»Meine liebe Nellie,« schrieb Ilses Mama, »ich darf Sie doch so nennen als meiner Ilse liebste Freundin? Mein Mann und ich möchten Ihnen so gern einen kleinen Beweis geben, wie dankbar wir Ihnen sind für die Liebe und Freundschaft, die Sie stets unsrem Kinde zu teil werden ließen. Zwei Freundinnen aber müssen auch gleiche Freuden haben – und mit diesem Gedanken bitten wir Sie herzlich, den Inhalt der Kiste freundlich anzunehmen.
Mit dem aufrichtigen Wunsche, daß Sie auch fernerhin unsrer Ilse eine treue Freundin bleiben mögen, grüßt Sie herzlich
Anne Macket.«
Nellie fiel Ilse um den Hals und vermochte kein Wort hervorzubringen. Die Rührung schnürte ihr die Kehle zu – Thränen waren seltene Gäste bei unsrer Nellie. Das frühverwaiste Mädchen, das sich von klein auf stets bei Verwandten herumdrücken mußte, dem das Sonnenlicht der elterlichen Liebe fehlte, hatte das Weinen beinah verlernt. Wer hätte auch auf seine Thränen achten sollen?
»Dein Mutter ist ein Engel!« brachte sie endlich, so halb unterdrückt, heraus. »Wie soll ich sie für alles danken?«
»Ja, meine Mama ist sehr gut!« bestätigte Ilse, und zum erstenmal stieg ein warmes, zärtliches Gefühl für dieselbe in ihrem Herzen auf.