»Nellie spricht doch sehr schlecht deutsch,« bemerkte Flora [pg 128]etwas spöttisch, »ich begreife das eigentlich nicht. Ein Jahr ist sie bereits in der Pension und wie falsch drückt sie sich noch immer aus.«
Sie hatte ihre Bemerkung so laut gemacht, daß der junge Lehrer sie hören mußte.
»Die deutsche Sprache ist schwer zu erlernen, Flora,« entgegnete er, »und ich muß gestehen, Nellie hat in dem einen Jahre schon sehr gute Fortschritte gemacht. Uebrigens klingen die kleinen Schnitzer, die sie zuweilen macht, ganz allerliebst und naiv, – wir wollen sie nicht deshalb verdammen.«
Fräulein Raimar blickte etwas erstaunt auf den Sprechenden, der sich so warm Nellies annahm. Vielleicht fand sie seine Entschuldigung in Gegenwart der übrigen Mädchen nicht ganz passend.
»Es ist sehr spät, Kinder,« unterbrach sie das Thema, »wollt ihr nicht für heute aufhören und morgen in eurer Arbeit fortfahren?«
Aber die Mädchen baten so sehr, heute schon ihr Werk vollenden zu dürfen, daß sie die Erlaubnis erhielten. Zu Floras Aerger, welche die Zeit nicht abwarten konnte, bis sie die vielen großartigen Gedanken, die in ihrem Kopfe spukten, erst schwarz auf weiß vor sich hatte.
Fräulein Raimar und Doktor Althoff entfernten sich und Nellie trat gleich darauf wieder in das Zimmer. Flora konnte nicht umhin, ihr einen kleinen Seitenhieb zu versetzen.
»Warum verstecktest du deine Hände auf dem Rücken?« fragte sie. »Ich fand das furchtbar komisch von dir. Du dachtest wohl, Doktor Althoff wolle dir die Hand geben?«
Die arme Nellie war über diesen Angriff so erschrocken, daß sie nicht darauf antworten konnte. Aber Ilse half ihrer Freundin aus der Verlegenheit.
»Ich finde nichts Komisches darin, Flora,« sagte sie lustig, »wenn Nellie nicht gern beschmutzte Finger sehen lassen [pg 129]will; aber daß du ihr deine eignen Gedanken zutraust, das finde ich komisch! – Ja, ja, Florchen, du bist erkannt!«
Flora errötete, aber sie war klug und antwortete nur mit einem wegwerfenden Achselzucken. –
Alle Vorbereitungen waren zu Ende. Die Mädchen trugen Ketten, Netze, kurz allen Schmuck herbei, um den Baum zu behängen.
Wie er sich füllte! Wie festlich geschmückt er bald dastand! Ilse bewunderte hauptsächlich die glänzenden Tannenzapfen, die sich zwischen den dunklen Nadeln ganz herrlich ausnahmen.
»Wie ein Märchenbaum!« rief sie fröhlich, und »Bäumchen rüttle dich und schüttle dich!« setzte sie übermütig hinzu.
»O, nein!« rief Nellie in komischem Ernste, »nicht schüttle und rüttle dir, Baumchen, es fallt sonst all der Salz von deiner Nadel und ich muß mir noch einmal die Finger zerkleben.«
»Nie in meinem Leben sah ich einen so schönen Christbaum!« erklärte Ilse.
»Wir sind noch nicht fertig, Ilse,« entgegnete Fräulein Güssow, »bald hätte ich das Gold- und Silberhaar vergessen.« – Und nun begann sie feine Fäden rings um den Baum zu spinnen.
»Wie schön! wie schön!« jubelte Ilse und schlug wie ein Kind vor Freude in die Hände. Dann nahm sie Nellie in den Arm und tanzte mit ihr um den Baum.
»Du wirst mit deiner lauten Freude die Schlafenden aufwecken,« ermahnte Fräulein Güssow; aber sie sah Ilse mit inniger Teilnahme an. – Es gab eine Zeit, wo auch sie so fröhlich hinausgejubelt hatte in die Welt, – bis der Sturm kam und ihr die Blüte des Frohsinns abstreifte und verwehte. –