»Und für meine Lori, bitt’ schön, meine gute Ilse!« bettelte Lilli, die gewöhnlich an den Mittwochnachmittagen im Arbeitssaale zugegen war und dann ihren Platz dicht bei Ilse wählte, die sie, wie sie sich ausdrückte, zum aufessen liebte. »Mein’ Lori muß halt a neues Kleiderl haben,« fuhr sie fort [pg 118]und hielt ihre Puppe in die Höhe, »bescher’ ihr eins zum heil’gen Christ. Schau, das alte da ist ja schlecht!«
Natürlich versprach Ilse, ihr diesen Herzenswunsch zu erfüllen, und zur Besiegelung drückte sie dem kleinen Liebling einen Kuß auf die roten Lippen.
»Ich habe eine famose Idee!« (famos war seit kurzer Zeit Modewort im Institute) rief Ilse am Abend desselben Tages aus, als sie mit Nellie allein war. »Ich kaufe für Lilli eine neue Puppe und kleide sie selbst an. Was meinst du dazu?«
»O, das ist wirklich ein famos Gedanke,« entgegnete Nellie, »aber lieb Kind, hast du auch an der viele Geld gedacht, die so ein’ Puppe mit ihrer Siebensachen kostet? Wie steht’s mit dein’ Kasse?«
»O, das hat keine Not, ich habe sehr viel Geld!« versicherte Ilse sehr bestimmt. Und sie nahm ihr Portemonnaie aus der Kommode und zählte ihre Schätze.
»Zwölf Mark,« sagte sie, »das ist mehr, als ich brauche, nicht?«
»Sie sind ein sehr schlecht’ Rechenmeister, mein Fräulein,« riß Nellie sie unbarmherzig aus ihrer Illusion, »ich mein’, Sie reichen lang’ nicht aus.«
Ilse sah die Freundin zweifelnd an. »Du scherzest,« meinte sie, »zwölf Mark ist doch furchtbar viel Geld?«
»Reicht lang nicht!« wiederholte Nellie unerbittlich, »hör zu, ich will dir vorrechnen:
1) Ein Nähtischdecken für Fräulein Raimar macht vier Mark,
2) ein Arbeitstaschen für Fräulein Güssow macht drei Mark,
3) eine schöne Geschenk für die liebe Nellie und all die andren junge Fräulein – macht – sehr viele Mark.
Wo willst du Geld zu der Puppen nehmen?«
»Ach,« fiel Ilse ihr ins Wort, »und unser Kutscher da[pg 119]heim und seine drei Kinder! – daran habe ich noch gar nicht gedacht!«
Sie machte ein recht betrübtes Gesicht, denn sie hatte es sich gar zu reizend ausgedacht, wie sie Lilli überraschen wollte. Nun konnte es nichts werden.
Nachdenklich saß sie einige Augenblicke, dann leuchteten plötzlich ihre Augen freudig auf.
»Halt!« rief sie aus, »ich weiß etwas! Heute abend schreibe ich an Papa und bitte ihn, mir Geld zu schicken. Er thut es, ich weiß es ganz bestimmt. Mein Papa ist ja ein zu reizender Papa!«
»Und dein’ Mutter?« fragte Nellie, »ist sie nicht auch ein’ sehr gütiger Frau? Wie macht sie dich immer Freude mit die viel’ schöne Sachen, die sie an dir schickt. Freust du dir sehr auf Weihnachten? Ja? Es ist doch schön, die lieben Eltern wieder sehen.«
Ilse zögerte mit der Antwort. Es fiel ihr ein, wie sie im Sommer ihrem Vater entschieden erklärt hatte, zum Christfest nicht in die Heimat zu reisen. Ihr Sinn hatte sich nicht geändert. Noch hatte sie den Groll gegen die Mutter nicht überwunden. Trotzdem sie sich sagen mußte und zuweilen auch ganz heimlich eingestand, wie nötig für ihr Wissen und ihre Ausbildung der Aufenthalt in einer tüchtigen Pension war, so hielt sie immer noch an dem Gedanken fest: ›Sie hat mich fortgeschickt.‹
»Ich werde hier bleiben,« sagte sie, »ich will das Weihnachtsfest mit euch verleben.«