Wie mit einem Zauberschlage wurde es lebendig im Hause. Die Fenster, die eben noch dunkel und wie träumend in den Garten geblickt hatten, erhellten sich. Thüren wurden geöffnet, Stimmen laut.
Die Vorsteherin, im tiefen Negligee, ein Licht in der Hand, trat zuerst aus ihrem Zimmer. Fast gleichzeitig erschien Fräulein Güssow. Als beide den Korridor passierten, schoß Miß Lead aus ihrer Zimmerthür, ängstlich fragend blickte sie die Damen an.
Sie war nicht gerade eine Heldin, die gute Miß, der Glockenschall war ihr in alle Glieder gefahren. Zitternd war sie aus dem Bette gesprungen und hatte nach ihren Kleidungsstücken gesucht. Im Dunkeln tappte sie vergeblich darnach. Sie hatte Licht anzünden wollen, aber die Schachtel mit Streichhölzern war ihr in der Aufregung entfallen. In nervöser Hast ergriff sie einen schottischen Plaid und drapierte sich denselben wie einen Mantel um ihre Gestalt. Ihr spärliches Haar, das sie jeden Abend eine gute Viertelstunde kämmte und bürstete, hing gelöst auf ihre Schulter herab.
Sie machte einen höchst komischen Eindruck in diesem abenteuerlichen Kostüme und die Vorsteherin gab ihr den ernstlichen Rat, sie möge sich wieder niederlegen, aber Miß Lead wehrte dieses Ansinnen lebhaft ab.
»Nein, nein!« Und sie hing sich an Fräulein Güssows Arm so fest, als ob sie bei ihr Schutz und Beistand suche.
Auch mehrere Pensionärinnen waren von dem ungewohnten Lärm erwacht und aufgestanden. Angstvoll stürzten sie aus ihren Zimmern und folgten den Lehrerinnen dicht auf dem Fuße, Flora hatte sogar einen Rockzipfel der Vorsteherin erfaßt.
Orla hörte Stimmen auf der Treppe und öffnete die Thür.
»Ist dir oder den Schwestern etwas passiert?« fragte Fräulein Raimar schnell in das Zimmer tretend.
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Statt Orla antwortete Melanie: »Etwas furchtbar Schreckliches haben wir erlebt!« rief sie. »Ein Gespenst, ein furchtbares Gespenst haben wir gesehen!«
»Du hast geträumt,« sagte die Vorsteherin, »es giebt keine Gespenster!«
»Ich sah es mit offenen Augen, Fräulein!« entgegnete Melanie mit voller Ueberzeugung. »Erst erwachten wir alle drei von einem furchtbar lauten Schrei, nicht wahr, Orla! gleich darauf sauste das Gespenst hier ganz dicht am Fenster vorbei.«
»Es war vielleicht ein Spitzbube, der sich Aepfel holen wollte,« beruhigte die Vorsteherin. »Hast du auch etwas gesehen, Orla?«
»Ja,« sagte sie. »Ich sah zum Fenster hinaus und da schien es mir, als ob etwas in Nellies Zimmer verschwand –«
Die Pensionärinnen, sogar Miß Lead, drängten sich im dichten Knäuel ängstlich um Fräulein Raimar. Gespenster – Spitzbuben! das war ja um sich tot zu fürchten. So schauerliche Dinge hatte man noch niemals in der Pension erlebt. Flora zitterte zwar vor Furcht und Erregung, trotzdem fand sie dieses Erlebnis höchst romantisch. Sie nahm sich vor, in ihrem nächsten Romane dasselbe zu verwerten.
Fräulein Güssow hatte kaum vernommen, daß der Spuk in Nellies Zimmer verschwunden sein solle, als sie still die Treppe hinunterstieg und sich zu den beiden Mädchen begab. Sie öffnete die Thür und leuchtete in das Zimmer. Ihr Blick glitt prüfend durch dasselbe, es war nichts Verdächtiges zu sehen. Die Fenster waren geschlossen und Ilse schien fest zu schlafen.
Nellie hatte sich im Bett erhoben und that ganz erstaunt beim Anblick der Lehrerin.