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Der Trotzkopf-48
日期:2023-02-09 15:32  点击:266
»Allmächtiger Gott!« schrie Melanie auf, »siehst du nichts? O, ich habe etwas furchtbar Schreckliches gesehen! Eben dort! – dicht am Fenster flog es vorüber! Ein Gespenst war es, mit fliegenden Haaren und großen, glühenden Augen! Hu, [pg 96]wie es mich ansah, als ob es mich verschlingen wollte! O, Orla – ein Gespenst – ein Gespenst!«
 
Sie klapperte mit den Zähnen vor Furcht und Schrecken, und Orla, die nichts gesehen hatte, sondern nur ein lautes Brechen und Knacken im Baume vernommen, sprang mutig aus ihrem Bette, schlug ihre Steppdecke über die Schultern und sah zum Fenster hinaus.
 
Grade hatte Ilse ihre tolle Fahrt beendet. In rasender Hast und Angst hatte sie dieselbe von der Höhe des Baumes bis zu ihrem Zimmerfenster gemacht, und Nellie, sie erwartend, streckte ihr beide Arme, soweit sie konnte, hilfreich entgegen. Sie war leichenblaß und außer sich über Ilses Tollkühnheit.
 
»Was hast du gemacht?« flüsterte sie, »du hast uns verraten! – hast du gehört? Ueber uns sind sie aufgeweckt! – Orla spricht ... Wir sind verloren!«
 
Eilig nahm sie der am ganzen Körper zitternden Ilse, deren Hände blutig geritzt waren, das Körbchen ab, warf die wenigen Aepfel, die nicht herausgefallen waren, in ihr Bett, das Körbchen hinter den Schrank, und legte sich nieder, alles in der größten Hast.
 
Ilse hatte ein gleiches gethan. Ohne sich zu entkleiden, mit Stiefel und Blousenkleid, sprang sie in ihr Bett und deckte sich bis an das Kinn zu. Sie schloß die Augen und erwartete in Todesangst das furchtbare Strafgericht, das ihrer wartete. –
 
Bei dem trügerischen Lichte des Mondes konnte Orla nicht erkennen, was eigentlich vorging. Sie sah wohl eine Gestalt – sah ein Paar weiße Arme, die ihr fabelhaft lang erschienen, aber nur einen flüchtigen Moment, dann war die ganze Erscheinung lautlos und still wie im Nebel verschwunden.
 
Sie lauschte noch einige Augenblicke atemlos, aber der Spuk war vorbei – nichts rührte sich. Trotz ihres Mutes wurde es ihr unheimlich zu Mute. Sie zog den Kopf zurück.
 
»Nun?« fragte Melanie, »sahst du etwas?«
 
»Ja,« entgegnete Orla, »deutlich habe ich eine Gestalt gesehen, und ich könnte darauf schwören, daß sie von zwei langen, weißen Armen in Nellies Zimmer gezogen wurde.«
 
»Liebe, liebe Orla!« bat Melanie kläglich und mit gerungenen Händen, »wecke die Leute! Wenn das Gespenst noch einmal erscheint, sterbe ich vor Angst!«
 
Orla ergriff die Klingelschnur, die sich dicht neben ihrem Bette befand, und läutete. In jedem Zimmer war eine solche angebracht, für den Fall, daß ein plötzliches Unwohlsein eine Pensionärin des Nachts befiel. Sämtliche Schnüre führten zu einer Hauptglocke, die unten, dicht neben Fräulein Raimars Schlafzimmer angebracht war.
 
Laut und schrill, wie eine Sturmglocke, tönte ihr Klang, der noch niemals die Ruhe gestört, durch die Stille der Nacht. Nellie und Ilse erzitterten, als ob sie ihr Sterbeglöcklein hörten. 

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