»Was machst du?« fragte Ilse.
»Ich will sehen, ob Fräulein Güssow noch Licht in sein’ Schlafstube hat –« flüsterte sie. »Noch ist hell unten, – immer noch – –«
»Soll ich aufstehen?« fragte Ilse.
»Nein, du sollst dir ganz ruhig halten und nicht so laut sprechen. Sie hat noch immer hell. Wie langweilig! Was sie nur anfangt! Warum geht sie nicht in ihr Bett und macht die Auge zu.«
Sie beugte sich weit zum Fenster hinaus und sah unverwandt auf die seitwärts liegenden, noch immer erleuchteten Fenster. Im Flüstertone rief sie Ilse ihre Bemerkungen zu. Plötzlich fuhr sie schnell mit dem Kopfe zurück und legte den Finger auf den Mund.
»Sei ganz still, Ilse, rühr’ dir nicht,« sagte sie dann, sich auf den Zehen zu derselben heranschleichend, »sie hat eben der Kopf zum Fenster ausgesteckt und sieht in der Mond. Beinah’ hat sie mir erblickt.«
Nach einem kleinen Weilchen hörte sie das Fenster schließen und als Nellie vorsichtig hinunter blickte, war das Licht gelöscht.
»Jetzt ist die große Augenblick gekommen,« wandte sie sich in pathetischem Tone an Ilse und streckte die Hand aus, »erheben Sie sich, mein Fräulein, und gehen Sie an das großes Werk!«
Ilse war so aufgeregt durch den Gedanken an das nächtliche Abenteuer, daß sie gar nicht bemerkte, wie urkomisch Nellie aussah, als sie in ihrem langen Nachtgewande, den Arm weit ausgestreckt, so vor ihr stand.
Eilig erhob sie sich und begann sich anzukleiden. Das war bald geschehen, da das Blousenkleid, und was sie sonst noch nötig hatte, schon bereit lag.
Gegen die Stiefel erhob Nellie Einsprache. »Sie sind zu unschicklich, zu plump, du machst eine so laute Schritt, daß alles aufwacht.«
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Ilse hörte nicht darauf. Sie hatte dieselben bereits angezogen und schlich auf den Zehen zum Fenster hin.
»Gieb mir das Körbchen,« bat sie. Nellie hing ihr ein solches um den Hals, damit sie den Arm frei behalte.
»So, nun bist du reisefertig, mach’ deine Sach’ brav, mein Kind,« sagte sie und küßte Ilse auf die Wange.
Die hörte nichts. Mit leichtem Sprunge schwang sie sich auf das Fensterbrett und von dort stieg sie in den Baum.
Aengstlich blickte ihr Nellie nach. Aber sie hatte nicht Ursache, besorgt zu sein. Ilse kletterte leicht und gewandt wie ein Eichkätzchen trotz ihrer schweren Stiefel. Als sie die drei bewußten Aepfel erreichen konnte, brach sie dieselben und warf sie Nellie zu.
»Da hast du eine Probe!« rief sie übermütig in halblautem Tone, »damit dir die Zeit nicht lang werde, bis ich wiederkomme!«
Die Früchte kollerten bis an das Ende des Zimmers zu Nellies Entsetzen.
»O, was thust du!« flüsterte sie und erhob drohend die Finger. »Die Köchin schläft unter dieser Zimmer, soll sie von der Spektakel aufwachen?«
»Bärbchen schläft fest, ich höre sie draußen schnarchen,« gab Ilse zurück. – »Wir können ganz ohne Sorge sein – alles schläft – alles ist still und dunkel. – Nun lebe wohl, Nellie, jetzt trete ich meine Reise an. Ach, es ist köstlich hier!«
Plötzlich bekam es Nellie mit der Angst. »Ich zittre für dir,« sprach sie mit bebenden Lippen, – »komm wieder her, – es könnte ein Unglück sein.«