»Du hast mich nicht zurückgerufen, – – so sehnsüchtig ich auch darauf gehofft habe. Liebtest Du mich, wie ich Dich, wäre es Dir nicht schwer geworden, ein versöhnendes Wort zu sagen. Lebe wohl denn, ich muß von Dir scheiden, Lucie, weil ich Dir nicht versprechen kann, [pg 80]Dir stets Wohlstand und Glück zu bieten. – – Mit welchem Rechte könnte ich vom Schicksal verlangen, daß mein Leben nur von der Sonne beschienen werde? Leb’ wohl, – ich habe Dich sehr geliebt.« –
»Wie gebrochen sank sie zur Erde nieder und hätte vor Schmerz vergehen mögen. Das hatte sie nicht gedacht, – so weit hatte sie es nicht treiben wollen. – Nun war es zu spät, alle Reue, alle Selbstanklage, brachten ihr den Geliebten nicht zurück.
»Die Großmama fand Lucie in einem verzweiflungsvollen Zustande, und heimlich, ohne ihr Wissen, schickte sie einen Boten in Curts Wohnung. Er kehrte zurück mit der Meldung: der Herr sei seit zwei Stunden abgereist. – Sie hatte ihn auf ewig verloren!« –
»O, die arm’ Lucie! Der schlechter Mensch, warum konnt’ er ihr verlassen!« rief Nellie unter Weinen. »Er hat ihr gar nix lieb gehabt.«
»Er hat sie sehr geliebt,« entgegnete die Lehrerin und sah hinaus auf den strömenden Regen; »aber er war ein ganzer Mann, der Lucies trotzigen Widerstand nicht länger ertragen konnte.«
»Und wo ist Lucie geblieben?«
»Lucie?« wiederholte Fräulein Güssow zögernd, – »ein trauriges Geschick hat sie getroffen. Ein Jahr nach dem Geschehenen verlor die Großmutter fast ihr ganzes Vermögen. Die Villa mußte verkauft werden und Lucie, das verwöhnte und verzogene Mädchen, war gezwungen, für die Zukunft ihr eignes Brot zu verdienen.«
Ilse sah entsetzt die Lehrerin an. »Ja, ihr Brot zu verdienen,« betonte dieselbe. »Das erschreckt dich, nicht wahr? Aber es wurde ihr nicht so schwer, als sie einstmals geglaubt. Seit jenem Tage, da sie das Schwerste erfahren, war eine Aenderung in ihrem Wesen vorgegangen. Still und ernst ging sie einher und ihr übermütiges Lachen war verschwunden. [pg 81]– Sie bereitete sich vor, Gouvernante zu werden, und als sie ihr Examen bestanden hatte, ging sie, nachdem sie die Großmama durch den Tod verloren, nach London. Sie wirkt dort als Lehrerin in einem Institute.«
»Und der Maler? Hat die arm’ Lucie nie gehört davon?«
»Seine Werke hat sie oft in den Galerien bewundert – er selbst blieb verschollen.«
»Oh wie ein furchtbar trauriges Geschicht’ ist das!« rief Nellie. »Es thut mich sehr weh.«
Und Ilse? Sie saß da, die Hände gefaltet, mit gesenktem Blick. Sie war bis in das Innerste getroffen. Wie Lucie hätte auch sie gehandelt, auch sie würde es bis zum Aeußersten getrieben, auch sie würde ihr Lebensglück im trotzigen Uebermute geopfert haben. – Noch schwankte sie einen Augenblick, wie im Kampf mit sich selber, dann aber erhob sie sich schnell und ergriff Fräulein Güssows Hand.
»Ich will um Verzeihung bitten,« sagte sie in leisem Tone, es war, als ob sie sich scheue, ihre eigenen Worte zu hören.
Ueber der Lehrerin Gesicht glitt ein Freudenschimmer. Sie nahm die Reuige in den Arm und küßte sie zärtlich.
»Geh’ – geh’,« sagte sie gerührt, »und wenn je ein böser Geist wieder über dich kommen will, denk’ an Lucies traurige Geschichte.«
Zögernd und beklommen stieg Ilse die Treppe hinunter. Vor der Vorsteherin Zimmer blieb sie stehen. Sie konnte sich nicht entschließen, die Thür zu öffnen. Zweimal hatte sie schon die Hand nach dem Drücker ausgestreckt und wieder zurückgezogen. Es war so furchtbar schwer, die erste Abbitte zu thun. Ob sie umkehre?