»›Warum soll ich dem Kinde nicht seinen Willen thun?‹ fragte sie, wenn man sie zuweilen auf ihre Schwäche auf[pg 72]merksam machte, ›ist es nicht schlimm genug, daß es keine Eltern hat? Ich kann es nun einmal nicht traurig sehen.‹«
»War Lucie hübsch?« fragte Nellie, die sich hinter Ilses Stuhl gestellt und den Arm um deren Schulter gelegt hatte.
»Ich glaube wohl,« entgegnete die Angeredete und errötete leicht, »wenigstens hat man es dem erwachsenen Mädchen oftmals gesagt. Doch das ist Nebensache – hört mich weiter an.
»Die Großmutter besaß ein herrliches Landhaus, dessen Park sich an einen bewaldeten Bergesabhang lehnte. Man durfte nur eine kleine Pforte, die sich am Ausgange des Grundstückes befand, durchschreiten und befand sich im schönsten Walde, den ihr euch denken könnt.
»Selten kamen Spaziergänger aus dem nahen Städtchen dorthin, desto öfter benutzte Lucie die kleine Ausgangspforte, durchstreifte den Wald bis an die Spitze des Berges, oder was sie noch häufiger that, sie lagerte sich an irgend einem versteckten Platze. So im weichen, schwellenden Moose zu liegen, ein gutes Buch zu lesen und darüber die Welt zu vergessen, – das war die höchste Wonne ihres Lebens.
»Eines Tages hatte sie wieder ihren Lieblingsplatz am Fuße einer Eiche aufgesucht. Die Luft war heiß und schwül und doppelt wohlthuend empfand sie die Waldeskühle. Sie streckte die schlaffen Glieder im Moose aus und blickte hinauf in das grüne Blätterdach. Nicht lange, dann öffnete sie das mitgebrachte Buch und las. So vertieft war sie bald in den Inhalt desselben, daß sie der Gegenwart ganz entrückt war. –
»Eine männliche Stimme schreckte sie plötzlich auf. Aergerlich über die Störung blickte sie auf und sah in das lächelnde Antlitz eines jungen Mannes, der mit Pinsel und Palette in der Hand vor ihr stand.
»›Ein wunderbares Bild!‹ rief er aus. ›Wahrlich, ich hätte Lust, dasselbe zu malen! Bleiben Sie in der Stellung,‹ bat er, als Lucie sich schnell erheben wollte, ›nur wenige [pg 73]Augenblicke! Aber so böse dürfen Sie nicht aussehen, – nein, ich bitte, wieder derselbe Zug von Spannung um den Mund, – dasselbe erwartungsvolle Lächeln – bitte!‹
»›Was fällt Ihnen ein?‹ rief Lucie aufgebracht und erhob sich mit einem Sprunge. Dabei fiel ihr das Buch aus der Hand.
»Er kam ihr zuvor, als sie sich schnell darnach bücken wollte; doch ehe er es ihr überreichte, las er das Titelblatt.
»›Werthers Leiden‹, bemerkte er und lachte lustig. ›Dacht’ ich es doch! Natürlich verbotene Lektüre, die in der Waldeinsamkeit verschlungen wird! Oder hat der Herr Papa vielleicht Ihnen diese gefährliche Geschichte erlaubt?‹
»Lucie entriß ihm das Buch, aber sie wurde über und über rot.
»›Ich verbitte mir Ihre Bemerkungen!‹ entgegnete sie zornig. ›Wer hat Ihnen erlaubt, mich zu beobachten?‹
»›Ich nahm mir selbst die Freiheit,‹ sagte er sich verbeugend, ›und bitte dafür um Verzeihung. Ein Zufall brachte mich in Ihre Nähe, dort jene Buchengruppe war ich im Begriffe zu malen, – da erblickte ich Sie, und können Sie mir verdenken, daß ich dem Zauber nicht widerstehen konnte, Sie zu betrachten?‹
»Sie gab keine Antwort, ja sie grüßte nicht einmal, als sie eilig davon ging. Sie empfand Unwillen und Aerger über den Aufdringlichen und doch – gefiel er ihr.« –
»War er ein schön Mann?« fragte Nellie.
»Ja, er war schön und klug und gut. Von den letzteren Eigenschaften konnte Lucie sich bald überzeugen, denn der Maler machte unter irgend einem Vorwande einen Besuch in der Großmutter Hause.