Der Oberamtmann befand sich in einer gleich aufgeregten Stimmung wie sein Kind, es wurde ihm nicht leicht zu trösten, [pg 20]wo er selbst des Trostes bedürftig war. So schwer hatte er sich die Trennung nicht gedacht, er würde sonst nicht darein gewilligt haben; aber da er das einmal gethan hatte, wollte er sich in die Notwendigkeit fügen.
Er strich Ilse das Haar aus der Stirn und setzte ihr den herabgesunkenen Hut wieder auf. »Komm,« sagte er, »jetzt wollen wir gehen. Nun sei ein verständiges Kind.«
»Die Mama soll mir nicht schreiben!« stieß Ilse schluchzend heraus, »nur deine Briefe will ich haben! Meine Briefe an dich soll sie auch nicht lesen!«
»Ilse!« verwies Herr Macket, »so darfst du nicht sprechen. Die Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir.«
»Sehr gut!« wiederholte sie in kindischem Zorne, »wenn sie mich lieb hätte, würde sie mich nicht verstoßen haben!«
»Verstoßen! Du weißt nicht, was du sprichst, Ilse! Werde erst älter, dann wirst du das große Unrecht einsehen, das du heute deiner Mutter anthust, und deine bösen Worte bereuen.«
»Sie ist nicht meine Mutter, – sie ist meine Stiefmutter!«
»Du bist kindisch!« sagte der Oberamtmann, »aber merke dir, niemals wieder will ich dergleichen Aeußerungen von dir hören. Du kränkst mich damit!«
Ilse sah schmollend zur Erde nieder und konnte nicht begreifen, wie es kam, daß der Papa sie nicht verstand, er mußte doch einsehen, wie unrecht ihr geschah.
»Komm jetzt,« fuhr er in mildem Tone fort, »wir wollen gehen, mein Kind.« Sie ergriff den Hund, nahm ihn auf den Arm und wollte so ausgerüstet dem Vater folgen.
»Laß ihn zurück,« gebot derselbe, »wir wollen die Vorsteherin erst fragen, ob du ihn mitbringen darfst.«
Aber Ilse setzte ihren Kopf auf, »dann gehe ich auch nicht,« erklärte sie mit aller Bestimmtheit. »Ohne Bob bleibe ich auf keinen Fall in der Pension!«
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Macket that dem Eigensinne den Willen aus Furcht, von neuem Thränen hervorzulocken. Aber Ilses Widerstand war ihm im höchsten Grade peinlich. Was sollte Fräulein Raimar denken!
Eine Viertelstunde darauf standen Vater und Tochter vor einem stattlichen, zweistöckigen Hause, das vor dem Thore der kleinen Stadt mitten im Grünen lag; es war das Institut des Fräulein Raimar.
Der Oberamtmann blieb überrascht davor stehen. »Sieh Ilse, welch ein schönes Gebäude!« rief er höchst befriedigt. »Der Blick von hier aus in die nahen Berge ist geradezu bezaubernd.«
Was kümmerten sie die Berge! Sie fühlte sich so gedrückt von Kummer, daß ihr die ganze Welt ein Jammerthal dünkte.
»Wie kannst du dies Haus schön finden, Papa,« entgegnete sie. »Wie ein Gefängnis sieht es aus.«
Herr Macket lachte. »Betrachte doch die hohen, breiten Fenster, Kind,« sagte er. »Glaubst du, daß in einem Gefängnisse ähnliche zu finden sind? Die armen Gefangenen sitzen hinter kleinen, blinden Scheiben, die außerdem noch mit einem Eisengitter versehen sind.«
»Ich werde jetzt auch eine Gefangene sein, Papa, und du selbst lieferst mich in dem Gefängnisse ab.«
»Du bist eine kleine Närrin!« lachte er und brach das Gespräch, das ihm bedenklich zu werden schien, ab.
Er stieg die breiten, steinernen Stufen, die zu dem Eingange führten, hinauf und zog an der Klingel. Ilse, die ihm langsam gefolgt war, schrak unwillkürlich zusammen, als sie den hellen Schall im Hause vernahm.