Obwohl dieses Spiel für immer dahin ist, und obwohl meine Ohren es niemals vernommen haben, so kann ich doch träumen davon, dichten und phantasieren und kann mir vorstellen und ausmalen, wie süß es geklungen haben muß, wie herrlich es geklagt, wie wunderbar es gejubelt und wie betörend es geschluchzt haben muß. Wo der Name Paganini ausgesprochen wird, hört man noch heute die Tonwellen auf und nieder rauschen, sieht man heute noch eine gespenstisch dünne und schlanke weiße Hand den Zauberbogen führen, glaubt man heute noch sein himmlisches Konzert zu hören. Dämonisch soll er gespielt haben auf seinem Seeleninstrument, auf der Herzengeige, und ich glaube es. Er gibt Dinge, an die man mit aller Gewalt glaubt, an die man glauben – – will, und so glaube ich denn, daß Paganini zaubervoll spielte und daß er mit seinem Bogen umging, wie Napoleon mit seinen Armeen. Gewiß, eine kühne Vergleichung. Doch lassen wir das. Er spielte so schön, daß die Frauen ihre geheimsten Träume von den Herrlichkeiten der Liebe in Erfüllung gehen sahen, indem sie sich von den liebsten und schönsten Lippen geküßt, und zwar mit einer so großen Gewalt geküßt fühlten, daß sie vergehen zu müssen meinten. Es war nicht, als wenn Hände, nein, es war, als wenn die Liebe selber spielte; es war weniger der Gipfel der Geigenspielerkunst, obgleich es ein völliger Gipfel war, als vielmehr die bloße, große Seele, die ja aller und jeder Kunst erst die Weihe, den Klang und den Inhalt gibt. Dadurch, daß er spielte, als wenn er lachte, redete und weinte, küßte und mordete, eine Schlacht mitkämpfte und in der Schlacht verwundet wurde, ein Pferd bestieg und auf und davon jagte, oder als wenn er in unendlicher, unsagbarer Einsamkeit schwermütigen Gedanken nachhinge, oder als wenn er auf stürmischer See Schiffbruch litte, oder als wenn er zittere im Genuß eines wilden, unverhofften Glückes – war er dämonisch. Weil er einfach war, war er groß. Gütiger Leser, lächle, ich bitte dich, über alle diese, wie du sagen wirst, überreizten Einbildungen, doch höre weiter, wie er spielte, wie Paganini spielte. Mir ist es, als hörte ich ihn in diesem Augenblick toben, wüten, zürnen, schwelgen und spielen. Er spielte sein Spiel so herunter, daß die Hörer glaubten, er zerrisse die Tonwelt mit dem Bogen, um sie wieder zusammensetzen zu können, sich verlierend in Harmonien. Nachtigallen, arabische Feenschlösser, Nächte, von denen die träumerische Liebe träumt, Treue, Güte und engelgleiche Zärtlichkeiten wurden wahr durch seines Spieles mondscheinmilden Zauber, und das Spiel selber, welchem Fürsten mit Vergnügen lauschten, floß dahin, wie zerrinnender, unter dem Kuß der Sonne sich langsam, langsam auflösender Schnee, floß dahin wie ein musikalischer Honigstrom, sich verliebend in die eigene Hoheit, Schönheit und Flüssigkeit. So spielte er. Aber er spielte noch viel schöner, er spielte so, daß der Haß sich in Liebe, die Treulosigkeit sich in Treue, der Übermut sich in Wehmut, der Mißmut sich in Wonne, die Häßlichkeit sich in Schönheit und die Hartnäckigkeit sich in süße, purpurn strahlende Freudigkeit, Freundlichkeit, Versöhnlichkeit und Willigkeit verwandelte. Goethe lauschte seinem märchenhaften Spiel, das ihn entzündete und bis tief in die große Seele entzückte. Je größer der war, der ihm zuhörte, um so höher und größer war auch der Genuß. Es ist dies ja das Geheimnis des Kunstgenusses überhaupt. Paganini wußte im voraus nie genau, wie und was er spielen wollte und würde; er ließ sich von den Tönen zu den Tönen, von den Stufen zu den Stufen, von den Wellen zu den Wellen, von den Unbewußtheiten zu den goldenen Bewußtheiten hinreißen, derart, daß ihm das Geigenspiel wie eine stolze Palme aus dem Boden des Beginnens emporwuchs und größer und größer, schöner und schöner wurde wie ein breites, gedankenvolles, wollüstiges Meer. Ähnlich geht der Mensch durch das Leben, nicht wissend, was aus ihm wird, keimend oder fallend, je nachdem das Schicksal es will. So war sein Spiel ein schicksalhaftes, zwischen Wollen und Sollen schwebendes menschliches Spiel, das darum auch alle Herzen gefangen nahm, alle Ohren bezauberte und alle Seelen überschwemmte mit seiner Bedeutung. Napoleon hörte ihm zu, zwei volle Stunden lang, wiewohl ich mir das vielleicht nur einbilde, wozu ich ein gewisses Recht habe, da doch dieser ganze Aufsatz nur auf der Einbildung und auf der Erhebung beruht. Strenggläubige Leute, Katholiken wie Protestanten, lauschten ihm mit Freuden, denn es strömte Religion, wie liebliche nahrhafte Milch, aus seinem Bogen. Seine Kunst glich einem Regen, einem Segen, einem Sonntag, einer wundervollen hinreißenden Predigt. Der Krieger lauschte ihm, alles, alles lauschte ihm, ganz Aufmerksamkeit, ganz nur Ohr.
Aufsätze by Robert Walser:Paganini
日期:2023-01-10 16:18 点击:233