Die drei Menschen, der Kapitän, ein Herr und ein junges Mädchen, steigen in den Korb ein, die befestigenden Stricke werden losgeknöpft, und das seltsame Haus fliegt langsam, als ob es sich erst noch auf irgend etwas besänne, in die Höhe; gute Reise!, rufen die versammelten Menschen von unten her, hüte- und taschentuchschwenkend, nach. Es ist zehn Uhr abends im Sommer. Der Kapitän zieht eine Landkarte zu einer Tasche heraus und bittet den Herrn, sich mit Kartenlesen beschäftigen zu wollen. Man kann lesen und vergleichen, alles Sichtbare ist hell. Es hat alles eine beinahe bräunliche Helle. Die schöne Mondnacht scheint den prachtvollen Ballon in unsichtbare Arme zu nehmen, sanft und still fliegt der rundliche Körper zur Höhe, und nun wird er, kaum, daß man es bemerkt, von feinen Winden nördlich getrieben. Der kartenstudierende Herr wirft von Zeit zu Zeit auf Anleitung des Führers eine Hand voll Ballast in die Tiefe hinunter. Es befinden sich fünf Säcke voll Sand an Bord, und es muß sparsam damit umgegangen werden. Wie schön ist die runde, blasse, dunkle Tiefe. Das liebe, bedeutsame Mondlicht macht die Flüsse silbern kenntlich. Man sieht Häuser da unten, so klein, dem unschuldigen Spielzeug ähnlich. Die Wälder scheinen dunkle, uralte Lieder zu singen, aber dieser Gesang mutet eher wie eine edle, stumme Wissenschaft an. Das Bild der Erde sieht den Zügen eines schlafenden, großen Mannes ähnlich, wenigstens träumt so das jugendliche Mädchen, es läßt seine bezaubernde Hand träge über den Rand des Korbes herabhängen. Einer Kaprice zufolge ist der Kopf des Kavaliers mit einem ritterlichen Federhut bedeckt, im übrigen ist er modern gekleidet. Wie still die Erde ist. Man sieht alles deutlich, die einzelnen Menschen in den Dorfgassen, die Kirchspitzen, den Knecht, wie er, vom langen Tagwerk ermüdet, schwerfällig über den Hof schreitet, die geisterhafte, vorbeisausende Eisenbahn, die blendendweiße lange Landstraße. Bekanntes und unbekanntes Menschenleid scheint von unten heraufzumurmeln. Die Einsamkeit verlorner Gegenden hat ihren besondern Ton, und man meint, dieses Besondere, dieses Unverständliche verstehen, ja sogar sehen zu sollen. Wundervoll blendet jetzt die drei Menschen der herrlich gefärbte und beleuchtete Lauf der Elbe an. Der nächtliche Strom entreißt dem Mädchen einen leisen Sehnsuchtsschrei. An was mag sie denken? Sie nimmt von einem Bukett, das sie mitgenommen hat, eine dunkle, prangende Rose und wirft sie ins glitzernde Wasser. Wie ihre Augen traurig dabei blitzen. Es ist, als wenn die junge Frau jetzt qualvollen Lebenskampf hinuntergeworfen hätte, für immer. Es ist ein großer Schmerz, von einer Qual Abschied nehmen zu müssen. Und wie lautlos die ganze Welt ist. In der Ferne glitzern die Lichter eines Hauptortes, der Kapitän nennt sachkundig den Namen der Stadt. Schöne, verlockende Tiefe! Man hat schon unzählige Stücke Wälder und Felder hinter sich, es ist jetzt Mitternacht. Jetzt schleicht auf der festen Erde irgendwo ein beutelauernder Dieb, Einbruch geschieht, und alle diese Menschen in ihren Betten da unten, dieser große Schlaf, geschlafen von Millionen. Eine ganze Erde träumt jetzt, und ein Volk ruht von Mühsalen aus. Das Mädchen lächelt. Und wie es warm ist, es ist, als säße man in einer heimatanmutenden Stube, bei Mutter, Tante, Schwester, Bruder, oder bei dem Geliebten, bei der friedlichen Lampe und läse in einer schönen, aber etwas eintönigen, langen, langen Geschichte. Das Mädchen will einschlafen, sie ist jetzt etwas ermüdet vom Schauen. Die beiden im Korb stehenden Männer blicken schweigend aber fest in die Nacht hinaus. Merkwürdige weiße, gleichsam blank geputzte Ebenen wechseln mit Gärten und kleinen Buschwildnissen ab. Man sieht in Gegenden hinunter, in die einen der Fuß nie, nie hintrüge, weil man in gewissen, ja, in den meisten Gegenden nie etwas Zweckvolles zu suchen hat. Wie groß und wie unbekannt uns die Erde ist!, denkt der federhutbedeckte Herr. Ja, das eigene Vaterland wird hier oben, Blicke hinunterwerfend, endlich zum Teil verständlich. Man empfindet, wie unerforscht und wie kraftvoll es ist. Zwei Provinzen sind durchwandert, als es beginnt zu tagen. Unten in den Siedelungen erwacht schon wieder das menschliche Leben. »Wie heißt dieser Ort?« schreit der Führer hinunter. Eine helle Jungenstimme antwortet. Und immer noch schauen die drei Menschen; auch das Mädchen ist jetzt wieder erwacht. Es zeigen sich jetzt Farben, und die Dinge werden bestimmter. Man sieht Seen in ihren zeichnerischen Umrissen, wundervoll zwischen Wäldern verborgen, man erblickt Ruinen alter Festungen zwischen altem Laubwerk hochaufragen; Hügel erheben sich fast spurlos, Schwäne sieht man weißlich im Gewässer zittern, und Stimmen des menschlichen Lebens werden sympathisch laut, und man fliegt immer weiter, und endlich zeigt sich die herrliche Sonne, und von diesem stolzen Gestirn angezogen schießt der Ballon in zauberische, schwindelerregende Höhe. Das Mädchen stößt einen Schreckensschrei aus. Die Männer lachen.
Aufsätze by Robert Walser:Ballonfahrt
日期:2023-01-04 09:41 点击:232