Ilse nahm das Köpfchen ihrer Enkelin zwischen ihre beiden Hände und küßte sie so innig und herzlich, daß jede andere Antwort überflüssig war. Dann schaute sie besorgt in das geliebte Antlitz. Es war nicht weniger schön, aber ein leidender Ausdruck lag um den kindlichen Mund, und die Vergißmeinnichtaugen blickten trübe.
„Siehst du nun ein, Kindchen, daß ich nicht anders handeln durfte?“ fragte sie sanft.
Irma nickte.
„Und daß ich dich vor einem großen Unglück bewahrte, indem ich dich hinderte, einen Mann zu heiraten, den du nicht liebtest?“
Irma erwiderte nichts und schaute nachdenklich vor sich hin.
„Siehst du auch ein,“ fuhr die Großmutter flüsternd fort, „daß Hans Reicher viel zu gut dazu ist, nur aus Ärger und Trotz genommen zu werden, und daß du im Begriff warst, ihm ein großes Unrecht zu tun?“
Wieder keine Antwort, und als Ilse sich tiefer herab beugte, sah sie, daß Irma aus den blauen Augen große Tränen in den Schoß tropften.
„Kindchen,“ sagte sie so leise, daß Irma es kaum verstand, „ist es wirklich wahr, ist Hans Reicher dir nicht gleichgültig?“
Da schlang Irma die Arme um Großmutters Hals und stammelte schluchzend:
„O, Großmama, ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich habe ihn lieb.“
Und wie früher streichelte Ilse das blonde Köpfchen und ließ das Mädchen sich nach Herzenslust ausweinen. Endlich hob Irma das Haupt und schaute die alte Dame errötend, aber immer noch tief traurig an.
„Erzähle mir, Kindchen, wie das gekommen ist.“
„Wie kann ich das erzählen? Weiß ich's doch selbst nicht. Nach dem Abend bei onkel Heinz war ich wütend auf Hans, ich glaubte ihn zu hassen und wurde krank vor Ärger und Scham. Nach überstandener Krankheit war ich noch immer schrecklich böse auf ihn, aber ich glaube, im Stillen hoffte ich doch auf einen Brief, in dem er seine harten Worte zurücknehmen und mich bitten würde, seine Frau zu werden. Aber ich hörte nichts von ihm, wollte auch nicht an ihn denken und sagte mir wohl hundertmal an einem Tage, daß ich gar nichts von ihm wissen wolle und ihm einen Korb geben würde, wenn er um mich anhielte.