Er ergriff ihre Hand mit Gewalt und zwang sie, ihn anzusehen. Der Mond schien so hell, als ob es Tag wäre. Stolz aufgerichtet stand Hans da, nicht wie ein Bittender, nicht wie ihr Anbeter, sondern wie ihr Richter. Auf seinem klugen, energischen Antlitz, das sie stets für häßlich gehalten hatte, las sie plötzlich tiefen Ernst und männlichen Stolz. Was sie trotz aller Verliebtheit für Hochstein nie gefühlt hatte, Achtung vor seinem Charakter und die Erkenntnis seiner Überlegenheit, das empfand sie in diesem Augenblick für Hans. Sie schaute ihn unverwandt an, gab aber keine Antwort.
„Nicht wahr?“ wiederholte Reicher, „Sie machen sich nichts aus mir?“
Gewaltsam entriß sie sich dem Eindruck seiner Rede. Es ging doch nicht, einem Manne, der es wagte, ihr so den Text zu lesen, der so gegen sie auftrat, etwas anderes als nein zu sagen. Ihre Eitelkeit kam ihr zu Hilfe. Sie entzog ihm heftig ihre Hand.
„Nein,“ versetzte sie, „ganz und gar nichts.“
„Das wußte ich,“ fuhr er traurig fort, „und damit fällen Sie Ihr eigenes Urteil. Wie ich schon sagte, Irma, ich hatte mich darein ergeben, daß Sie nie die Meine werden könnten. Ich bin nicht gewöhnt zu betteln, und werde auch nie um die Liebe eines Weibes flehen. Aber Sie haben mir unsagbar großen Kummer bereitet, und wenn Sie an Ihr eigenes Leid denken, werden Sie das vielleicht verstehen. Wenn Sie mit dem elenden Baron oder mit einem andern verlobt wären, würde ich das besser ertragen haben, als die Erkenntnis, daß Sie eine ganz oberflächliche Kokette sind, die sich und mich, nur um Ihrer nichtswürdigen Eitelkeit willen, unglücklich machen wollte.“
„Noch nicht,“ entgegnete Hans und hielt sie mit eisernem Griff fest, als sie sich entfernen wollte. „Ich habe noch etwas zu sagen. In gewisser Hinsicht bin ich ein sehr dummer Kerl, denn trotz alledem liebe ich Sie noch immer, Irma, und werde Sie ewig lieben; dies Gefühl kann ich nicht mit der Wurzel ausreißen, es ist stärker als mein Verstand, aber nicht stärker als mein Wille. Wenn Sie mich jetzt auch auf den Knieen anflehten, Sie zum Weibe zu nehmen, ich würde es nicht tun. Nur wenn Sie je zu der Einsicht gelangen sollten, wie tief Sie mich gekränkt haben; wenn Sie aus eigenem Antrieb zu mir kämen, um mir zu sagen, daß Sie mich über alles lieben und sich kein Glück ohne mich denken können, wäre ich im stande, zu vergessen und zu vergeben, und würde Ihnen die Hand fürs Leben reichen.“
„Da können Sie lange warten!“ rief das junge Mädchen außer sich vor Zorn. „Lieber sterben!“
„Da sei Gott vor!“ nahm Hans ernst das Wort. „Und nun sind Sie gleich zu Hause, Irma, leben Sie wohl. Wir beide haben uns für den Augenblick nichts mehr zu sagen.“
Sie beschleunigten ihre Schritte, um die andern einzuholen. Vor Ilses Wohnung wurde Abschied genommen. Hans reichte Irma die Hand; wider Willen blickte sie ihn noch einmal an, ein tief schmerzlicher Ausdruck lag in seinen Augen, aber die kalten Finger, welche die ihren nur leicht berührten, bebten nicht.
Ohne mit irgend jemand ein Wort zu wechseln, eilte Irma auf ihr Zimmer und warf die Tür heftig ins Schloß. Bald darauf klopfte es.
„Wer ist da?“ rief das Mädchen unwillig. „Ich bin müde und mag mit niemand mehr sprechen.“
„Ich bin es, Kind,“ erklang die Stimme der Großmutter. „Was bedeutet es, daß du dich einschließt? Laß mich herein.“
Irma gehorchte. Mit einem blassen Gesichtchen, aus dem die sonst so sanften, kindlichen Augen unnatürlich groß heraus starrten, stand sie vor der alten Dame, die sie ernst und doch freundlich anschaute. Irma war, als ob sie den Blick nicht ertragen könnte.
„Großmutter,“ sagte sie gepreßt, „hast du Hans erzählt, was zwischen mir und Otto von Hochstein vorgefallen ist?“
„Ja, Irma.“