Die Mädchen berichteten dies und das von ihrer Reise, ihrem Aufenthalt in Paris und ihren Plänen, wie sie das Haus, welches sie hier gemietet hatten, einrichten wollten. Das berührte Tante Elisabeth unangenehm. Ihr kaltes Antlitz mit den regelmäßigen Zügen und dem tadellos gescheitelten, noch dunklen Haar ward immer länger und länger. Es mißfiel ihr im höchsten Grade, daß so junge Mädchen allein aus einem andern Erdteile — und gar noch über Frankreich — nach Deutschland reisten und das für das Natürlichste und Einfachste von der Welt hielten. Sie selbst war in ihrem ganzen Leben nie über einige Meilen im Umkreis ihres Geburtsortes herausgekommen, und sie verurteilte jeden, der ihren engherzigen Ansichten nicht beipflichtete. Diese Kinder hatten sicher die Abenteuerlust vom Vater, ihrem Bruder Fritz geerbt, der auch mit fünfzehn Jahren aus dem Elternhause entlief, weil er sich der heiligen Zucht und Ordnung nicht fügen wollte, die dort dank dem strengem Regiment ihrer Mutter herrschten. Als sie im Lauf der Unterhaltung merkte, daß die Mädchen von ihren Eltern nicht mehr als Kinder, sondern als gleichberechtigte erwachsene Menschen behandelt wurden, fing sie an, mit der Neugierde einer unverbesserlichen alten Jungfer allerhand unbescheidene Fragen zu stellen. Wieviel Miete sie für das Haus zahlten? Wie groß das Einkommen ihres Vaters wäre? Wieviel Kleidergeld sie erhielten? Ob ihr Vater hier auf demselben Fuße leben könnte wie in Amerika? &c. &c.
Irma amüsierte sich köstlich über die Art, wie Maud und Agnes, ohne unhöflich zu sein, mit großem Takt auf all diese Fragen ausweichende Antworten gaben; und Tante Elisabeth mußte zu ihrem Ärger erfahren, daß sie keine kleinen Kinder, die sie nach Herzenslust ausforschen konnte, vor sich hatte, sondern ein paar kluge, verständige Mädchen, die nicht mehr sagten, als sie für richtig hielten.
„Tante,“ ließ Karl sich plötzlich vernehmen, „darf das Fenster nicht geöffnet werden?“
„Wozu, mein Junge?“
„Ich finde, daß es hier so abscheulich riecht.“
Die alte Dame wurde rot.
„Du kannst deine Bemerkungen für dich behalten, lieber Neffe,“ sagte sie giftig. „Das Fenster — bleibt geschlossen. Ich habe keine Lust, mich dir zu Liebe zu erkälten.“
Wieder setzte sie ihre Unterhaltung mit Maud fort. Karl sah nach Irma hin, die ihm lächelnd zunickte.
„Tante,“ fing er von neuem an.
„Was, kleiner Kerl?“
„Ich hab solchen Durst. Hast du nicht ein Glas Limonade oder Obst für uns?“
„Ein gut erzogenes Kind fordert nicht, sondern wartet, bis ihm etwas angeboten wird,“ entgegnete die Tante streng. „Sind alle Kinder in Amerika so ungesittet und schlecht erzogen wie dieser Junge, Nichte Maud?“
Aber nun war's mit Mauds Selbstbeherrschung vorbei.
„Nein, Tante,“ versetzte sie scharf. „Bei uns sind die Kinder, gerade wie Karl, sehr gut und gesittet erzogen, und die Leute sind gastfrei und freundlich, so daß sie sich wundern, wenn sie bei andern das gerade Gegenteil sehen.“
Noch nie hatte Irma Maud so nett gefunden, wie in diesem Augenblick. Agnes und Karl freuten sich diebisch. Tante Elisabeth wurde dunkelrot. Am liebsten hätte sie den frechen Kindern die Tür gewiesen, aber bei reiflicher Überlegung hielt sie es doch für besser, so zu tun, als hätte sie den Stich nicht verstanden. Mit sauersüßer Miene sagte sie daher zu ihrem Neffen:
„Du möchtest also ein Stück Kuchen haben, mein Jungchen?“
„Davon hab' ich doch nichts gesagt,“ verteidigte sich Karl, doch auf einen Wink von Maud schwieg er. Die Tante schloß ein Fach des schweren Mahagonibuffets mit schwarzer Marmorplatte auf und holte eine Blechbüchse heraus. Sie bot den Mädchen an, die dankend ablehnten, und der kleine Junge zog ein Gesicht beim Anblick der altbackenen, trocken gewordenen Stückchen Sandkuchen, aber probieren wollte er sie doch.
„Willst du noch eins?“ fragte die Tante, zuschauend, wie er mit langen Zähnen daran kaute.
„Nein, danke, es ist eine Kunst das hinunterzuwürgen, ohne dabei zu trinken.“
„Wir müssen gehen,“ nahm Maud rasch das Wort, bevor Fräulein Müller zu antworten vermochte. „Großmama wird nicht wissen, wo wir geblieben sind.“