Es war ein großes Gemach, aber es roch dumpfig und feucht, als ob es lange nicht gelüftet worden wäre. Vor dem hohen, breiten Fenster, das auf einen Hof hinausging, hingen schwere, dunkle Übergardinen. Dunkel waren auch Tapeten und Möbel, die wie Soldaten in Reih und Glied an den Wänden standen. Das goldene Sonnenlicht, die fröhlichen Farben der ersten hellen Sommertage waren sorgfältig ausgesperrt; hier schien alles düster, winterlich, feucht und bedrückend.
Maud, Karl und Irma hatten jedes auf der Kante eines Stuhles Platz genommen, ohne den Mut zu finden, ihn auch nur ein wenig von der Wand zu rücken.
Niemand kam.
„Brr,“ machte Irma, „hier bekommt man fast Lust, etwas ganz Tolles zu begehen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.“
„Weißt du, was hier das Hübscheste ist?“ fragte Agnes, mit dem Fuß über den Boden gleitend.
„Nun?“
„Der Boden, das schönste Parkett kann nicht besser sein.“
In der Tat war der Linoleumteppich so glatt gebohnt, daß man bei jedem Schritt in Gefahr geriet, zu fallen.
„Herrlich zum Tanzen!“ rief Irma, und plötzlich sprang sie auf, faßte Agnes um die Taille und walzte mit ihr durch das Zimmer.
„Haltet ein, das dürft ihr nicht,“ bat Maud erschrocken, die beiden aber hörten nicht und Karl, von ihnen angesteckt, wurde nun auch ausgelassen, fing an mit den Fäusten auf dem Tisch zu trommeln und mit lauter Stimme zu singen:
„Come boys, push along
And let us all be gay.“
„Mein Gott, was geht hier vor?“ ertönte plötzlich eine angsterfüllte Stimme. Die Türe wurde geöffnet und Tante Elisabeth, durch den Lärm in ihrem sonst so stillen Hause zu Tode erschreckt, schaute hinein, gefolgt von der nicht minder entsetzten Grete.
„Das sind keine Amerikaner, gnädiges Fräulein,“ rief letztere, „das sind Wilde. Der Junge wird das Haus noch einreißen.“
Die Mädchen ließen sich los, und lachend wandte Irma sich dem alten Fräulein zu.
„Seien Sie nicht böse, Fräulein Müller. Wir machten ein Tänzchen, um uns die Zeit zu vertreiben, da Sie sich gar nicht sehen ließen. Dies sind Ihre Nichten Maud und Agnes, und der Bengel da ist Karl.“
„Vorgestern sind wir angekommen, liebe Tante,“ sagte Maud freundlich, „und hoffen, daß du froh bist, uns zu sehen.“
„Seid willkommen, ihr Mädchen,“ entgegnete die Tante und gab jeder einen Kuß. Karl reichte sie die Hand; vor dem Knaben mit seinem Schelmengesicht und den übermütig blitzenden Augen hatte sie buchstäblich Furcht. „Aber ich muß doch sagen, daß ihr eine sonderbare Manier habt, Besuche zu machen. Ist das Mode in Amerika?“
„Nein, Tante,“ erwiderte Agnes lachend. „Da ist nur dein gebohnter Fußboden schuld. So köstlich glatt, das verlockt unwiderstehlich zu einem Tänzchen. Wenn du das Zimmer ausräumst, kannst du im Winter hier eine herrliche Tanzgesellschaft geben.“
„So, die geb' ich aber nicht,“ klang es ziemlich gereizt zurück. „Grete, sieh mal nach, ob keine zu argen Schrammen im Boden sind, und reib' auch den Tisch ab, der Junge hat mit seinen warmen Händen Flecken darauf gemacht.“
Eine unbehagliche Stille entstand. Maud fühlte sich durch diesen mehr als unfreundlichen Empfang beleidigt. Irma und Agnes traten sich unter dem Tisch auf die Füße und wechselten beredte Blicke. Karl aber, dem es sofort klar wurde, daß er seine Tante nicht ausstehen könne, sann auf einen neuen Streich, mit dem er sie ärgern wollte. Tante Elisabeth betrachtete ihre Nichten neugierig und eingehend. Die Mädchen mißfielen ihr dank ihrer höchst einfachen Kleidung nicht; diese war ihr lieber wie Irmas Toilette, die immer höchst elegant und nach der neuesten Mode war. Aber daß Maud ihr Haar kurz geschnitten trug, fand sie lächerlich.
„Warum trägst du dein Haar wie ein Junge?“ fragte sie.
„Weil ich es bequem und praktisch finde, Tante.“
„Aber doch auch, weil es dir gut steht?“ meinte Irma.
„Jawohl, stünde es mir schlecht, so würde ich es nicht tun.“
„Ihr habt nette Kostüme an,“ fuhr Tante Elisabeth fort. „Geht ihr immer so dunkel und einfach gekleidet?“
Maud biß sich auf die Lippen; dies unhöfliche Ausfragen ärgerte sie, Agnes versetzte aber lachend:
„O nein, das sind unsre Reisekleider, und es ist bequem, wenn die ganz einfach sind. Aber bei feierlichen Gelegenheiten geben die amerikanischen Frauen und Mädchen viel auf Toilette. Wenn wir wieder kommen, wirst du uns in großer Gala sehen, Tante.“
„Das ist nicht nötig,“ erwiderte Fräulein Müller steif. „Ich gebe nichts darauf; ich halte nur auf Einfachheit und Tüchtigkeit. Doch nun erzählt mir, wie es euren Eltern geht und wann sie hier eintreffen!“