Am nächsten Morgen sandte die strahlende Maisonne Lichtfunken durch die Stäbe der heruntergelassenen Jalousien in Irmas Zimmer, und endlich gelang es ihr, das junge Mädchen aufzuwecken. Irma richtete sich auf und schaute umher in dem hübschen Gemach mit den hell bezogenen Möbeln und den weißen, mit blauen Schleifen aufgenommenen Gardinen. Sie rieb sich die Augen, nickte den Bildern ihrer Eltern und ihres Bruders, die auf dem Schreibtisch standen, einen Morgengruß zu und dann, ohne daß sie sich recht darauf besinnen konnte, fiel ihr ein, daß gestern abend etwas sehr Nettes passiert war. Ach ja, die Ankunft der amerikanischen Cousinen! Sie sah nach der Uhr und merkte mit Schrecken, daß es schon sehr spät war und sie die Zeit verschlafen hatte. Eilig sprang sie aus dem Bett und kleidete sich an.
Bei Großmama schadete das nichts, die machte kein böses Gesicht, wenn sie ein bißchen spät herunterkam, aber was würden die amerikanischen Cousinen denken? Irma war ein recht verwöhntes Kind, ein verzogenes Püppchen; da sie aber so liebenswürdig, sanft und herzlich war, ließ Großmutter Ilse ihr in ihren kleinen Liebhabereien und Neigungen, die sie nur noch bezaubernder machten, ihren freien Willen. Sie war nicht eitler als die meisten jungen Mädchen, obwohl sie wußte, daß sie ein reizendes Gesichtchen hatte, mit blauen Vergißmeinnichtaugen und einer Fülle krausen goldblonden Haares. Sie hielt sehr darauf, nett angezogen zu sein, und brauchte viel Zeit zur Toilette, aber das Resultat war dann auch stets ein so befriedigendes, daß die Großmutter, selbst wenn sie zuweilen über solche Zeitvergeudung schalt, sich heimlich gestehen mußte, daß das kleine Ding unwiderstehlich reizend aussah.
Denselben Gedanken hatten auch die amerikanischen Cousinen, als Irma nun endlich in einem blau und weiß gestreiften Morgenkleide sich zu ihnen gesellte, und der kleine Karl, der sich bereits im Zimmer seiner Schwestern befand, erklärte Irma für das schönste Mädchen, das er je gesehen.
„Dummer Junge!“ rief sie lachend, aber geschmeichelt fühlte sie sich doch. „Was ist das mit euch?“ fuhr sie fort, erstaunt erst die beiden Mädchen ansehend und dann im Zimmer umherblickend.
Maud und Agnes waren, wie Karl, bereits zum Ausgehen gerüstet, bis auf Hut und Handschuhe. Aber auch das Zimmer war schon völlig fertig, die Betten gemacht, die Waschtische in Ordnung gebracht, überall Staub gewischt, ja Agnes war beschäftigt, den Pflanzen, die auf dem Balkon standen, Wasser zu geben.
„Warum habt ihr das alles selbst besorgt?“ fragte Irma verwundert.
„Das sind wir so gewöhnt.“
„Aber dazu sind doch die Dienstmädchen da.“
„Gewiß,“ versetzte Maud, „doch wir lieben es nicht, uns bedienen zu lassen. Was wir selbst tun können, tun wir auch selber. Bei uns haben wir keine Bedienten in dem Sinne, wie ihr das versteht. Zu gewissen Arbeiten, die wir nicht verrichten können, kommen Leute stundenweise jeden Tag; dann gehen sie wieder. Sie werden fast als unsres Gleichen angesehen. Die Mutter erzählte uns, daß es hier ganz anders ist, aber so rasch können wir uns daran nicht gewöhnen.“
Großmutter Ilse erwartete das junge Volk im Eßzimmer, dessen weit offenstehende Glastüren in den Garten führten. Nach dem Frühstück wurde ein Tagesprogramm entworfen. Die Mädchen wollten sich am liebsten gleich nach einer passenden Wohnung umsehen. Sie ersuchten Großmama und Irma nachzudenken, welches Stadtviertel das geeignetste wäre, damit sie keine unnötigen Wege zu machen brauchten.
„Aber erst,“ erklärte Maud, „muß ich zwei Briefe schreiben, oder besser, du, Agnes, schreibst den an unsre Eltern, das erspart Zeit. Den andern muß ich selbst erledigen.“
Sie wurde dabei rot, und Irma forschte lachend:
„Ist er so wichtig, daß du ihn nicht bis zum Nachmittag aufschieben kannst?“
„Ja,“ versetzte Maud, „denn dieser Brief ist für meinen Verlobten bestimmt.“
Großmama und Irma machten erstaunte Gesichter.
„Du bist schon Braut, mein Kind?“ fragte erstere. „Und davon erfuhr ich nichts. Das ist doch nicht auf der Reise zustande gekommen?“ fügte sie hinzu, fürchtend, daß ihre Enkelin ohne Wissen der Eltern einen unüberlegten Schritt getan haben möchte.
„Nein, Großmama,“ erwiderte Maud ruhig. „John und ich, wir sind schon fast ein Jahr verlobt. Er ist eine Waise, Vater und Mutter haben es vom ersten Tage an gewußt. Der Vater hielt es für besser, nicht darüber zu reden, denn es dauert noch ein Jahr, bis John fertig ist und wir heiraten können. Daher haben wir nichts davon in unseren Briefen erwähnt, aber ich wollte es dir natürlich gleich mitteilen.“
„Und was ist dein Bräutigam?“
„Im Augenblick Heizer auf einer Lokomotive.“
„Was!“ riefen Ilse und Irma, im höchsten Grade erstaunt, wie aus einem Munde.
„Heizer auf einer Lokomotive,“ wiederholte das junge Mädchen mit größter Gemütsruhe.
„Ist er denn ein Arbeitsmann?“ fragte Irma kleinlaut.