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德米安 Demian-Sechstes Kapitel Jakobs Kampf 1
日期:2022-08-11 14:47  点击:220
Was ich von dem sonderbaren Musiker Pistorius über Abraxas erfuhr, kann ich nicht in Kürze wiedererzählen. Das Wichtigste aber, was ich bei ihm lernte, war ein weiterer Schritt auf dem Wege zu mir selbst. Ich war damals, mit meinen etwa achtzehn Jahren, ein ungewöhnlicher junger Mensch, in hundert Dingen frühreif, in hundert andern Dingen sehr zurück und hilflos. Wenn ich mich je und je mit anderen verglich, war ich oft stolz und eingebildet gewesen, ebenso oft aber niedergedrückt und gedemütigt. Oft hatte ich mich für ein Genie angesehen, oft für halb verrückt. Es gelang mir nicht, Freuden und Leben der Altersgenossen mitzumachen, und oft hatte ich mich in Vorwürfen und Sorgen verzehrt, als sei ich hoffnungslos von ihnen getrennt, als sei mir das Leben verschlossen.
Pistorius, welcher selbst ein ausgewachsener Sonderling war, lehrte mich den Mut und die Achtung vor mir selbst bewahren. Indem er in meinen Worten, in meinen Träumen, in meinen Phantasien und Gedanken stets Wertvolles fand, sie stets ernst nahm und ernsthaft besprach, gab er mir das Beispiel.
„Sie haben mir erzählt,“ sagte er, „daß Sie die Musik darum lieben, weil sie nicht moralisch sei. Meinetwegen. Aber Sie selber müssen eben auch kein Moralist sein! Sie dürfen sich nicht mit andern vergleichen, und wenn die Natur Sie zur Fledermaus geschaffen hat, dürfen Sie sich nicht zum Vogel Strauß machen wollen. Sie halten sich manchmal für sonderbar, Sie werfen sich vor, daß Sie andere Wege gehen als die meisten. Das müssen Sie verlernen. Blicken Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und die Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann überlassen Sie sich ihnen und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich. Damit kommt man auf den Bürgersteig und wird ein Fossil. Lieber Sinclair, unser Gott heißt Abraxas, und er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Träume etwas einzuwenden. Vergessen Sie das nie. Aber er verläßt Sie, wenn Sie einmal tadellos und normal geworden sind. Dann verläßt er Sie und sucht sich einen neuen Topf, um seine Gedanken drin zu kochen.“
Unter allen meinen Träumen war jener dunkle Liebestraum der treueste. Oft, oft habe ich ihn geträumt, trat unterm Wappenvogel weg in unser altes Haus, wollte die Mutter an mich ziehen, und hielt statt ihrer das große halb männliche, halb mütterliche Weib umfaßt, vor der ich Furcht hatte und zu der mich doch das glühendste Verlangen zog. Und diesen Traum konnte ich meinem Freunde nie erzählen. Ihn behielt ich zurück, wenn ich ihm alles andre erschlossen hatte. Er war mein Winkel, mein Geheimnis, meine Zuflucht.
Wenn ich bedrückt war, dann bat ich Pistorius, er möge mir die Passacaglia des alten Buxtehude spielen. In der abendlichen dunklen Kirche saß ich dann verloren an diese seltsame, innige, in sich selbst versenkte, sich selber belauschende Musik, die mir jedesmal wohl tat und mich bereiter machte, den Stimmen der Seele recht zu geben.
Zuweilen blieben wir auch eine Weile, nachdem die Orgel schon verklungen war, in der Kirche sitzen und sahen das schwache Licht durch die hohen spitzbogigen Fenster scheinen und sich verlieren.
„Es klingt komisch,“ sagte Pistorius, „daß ich einmal Theologe war und beinah Pfarrer geworden wäre. Aber es war nur ein Irrtum in der Form, den ich dabei beging. Priester sein, ist mein Beruf und mein Ziel. Nur war ich zu früh zufrieden und stellte mich dem Jehova zur Verfügung, noch ehe ich den Abraxas kannte. Ach, jede Religion ist schön. Religion ist Seele, einerlei, ob man ein christliches Abendmahl nimmt oder ob man nach Mekka wallfahrt.“
„Dann hätten Sie,“ meinte ich, „aber eigentlich doch Pfarrer werden können.“
„Nein, Sinclair, nein. Ich hätte ja lügen müssen. Unsre Religion wird so ausgeübt, als sei sie keine. Sie tut so, als sei sie ein Verstandeswerk. Katholik könnte ich zur Not wohl sein, aber protestantischer Priester — nein! Die paar wirklich Gläubigen — ich kenne solche — halten sich gern an das Wörtliche, ihnen könnte ich nicht sagen, daß etwa Christus für mich keine Person, sondern ein Heros, ein Mythos ist, ein ungeheures Schattenbild, in dem die Menschheit sich selber an die Wand der Ewigkeit gemalt sieht. Und die anderen, die in die Kirche kommen, um ein kluges Wort zu hören, um eine Pflicht zu erfüllen, um nichts zu versäumen und so weiter, ja was hätte ich denen sagen sollen? Sie bekehren, meinst du? Aber das will ich gar nicht. Der Priester will nicht bekehren, er will nur unter Gläubigen, unter seinesgleichen leben, und will Träger und Ausdruck sein für das Gefühl, aus dem wir unsere Götter machen.“
Er unterbrach sich. Dann fuhr er fort: „Unser neuer Glaube, für den wir jetzt den Namen des Abraxas wählen, ist schön, lieber Freund. Er ist das Beste, was wir haben. Aber er ist noch ein Säugling! Die Flügel sind ihm noch nicht gewachsen. Ach, eine einsame Religion, das ist noch nicht das Wahre. Sie muß gemeinsam werden, sie muß Kult und Rausch, Feste und Mysterien haben . . .“
Er sann und versank in sich.
„Kann man Mysterien nicht auch allein, oder im kleinsten Kreis, begehen?“ fragte ich zögernd.
„Man kann schon,“ nickte er. „Ich begehe sie schon lang. Ich habe Kulte begangen, für die ich Jahre von Zuchthaus absitzen müßte, wenn man davon wüßte. Aber ich weiß, es ist noch nicht das Richtige.“
Plötzlich schlug er mir auf die Schulter, daß ich zusammenzuckte. „Junge,“ sagte er eindringlich, „auch Sie haben Mysterien. Ich weiß, daß Sie Träume haben müssen, die Sie mir nicht sagen. Ich will sie nicht wissen. Aber ich sage Ihnen: Leben Sie sie, diese Träume, spielen Sie sie, bauen Sie ihnen Altäre! Es ist noch nicht das Vollkommene, aber es ist ein Weg. Ob wir einmal, Sie und ich und ein paar andere, die Welt erneuern werden, das wird sich zeigen. In uns drinnen aber müssen wir sie jeden Tag erneuern, sonst ist es nichts mit uns. Denken Sie dran! Sie sind achtzehn Jahr alt, Sinclair, Sie laufen nicht zu den Straßendirnen, Sie müssen Liebesträume, Liebeswünsche haben. Vielleicht sind sie so, daß Sie sich vor ihnen fürchten. Fürchten Sie sich nicht! Sie sind das Beste, was Sie haben! Sie können mir glauben. Ich habe damit viel verloren, daß ich in Ihren Jahren meine Liebesträume vergewaltigt habe. Man muß das nicht tun. Wenn man von Abraxas weiß, darf man es nicht mehr tun. Man darf nichts fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht.“
Erschreckt wandte ich ein: „Aber man kann doch nicht alles tun, was einem einfällt! Man darf doch auch nicht einen Menschen umbringen, weil er einem zuwider ist.“
Er rückte näher zu mir.
„Unter Umständen darf man auch das. Es ist nur meistens ein Irrtum. Ich meine auch nicht, Sie sollen einfach alles das tun, was Ihnen durch den Sinn geht. Nein, aber Sie sollen diese Einfälle, die ihren guten Sinn haben, nicht dadurch schädlich machen, daß Sie sie vertreiben und an ihnen herummoralisieren. Statt sich oder einen andern ans Kreuz zu schlagen, kann man aus einem Kelch mit feierlichen Gedanken Wein trinken und dabei das Mysterium des Opfers denken. Man kann, auch ohne solche Handlungen, seine Triebe und sogenannten Anfechtungen mit Achtung und Liebe behandeln. Dann zeigen sie ihren Sinn, und sie haben alle Sinn. — Wenn Ihnen wieder einmal etwas recht Tolles oder Sündhaftes einfällt, Sinclair, wenn Sie jemand umbringen oder irgendeine gigantische Unflätigkeit begehen möchten, dann denken Sie einen Augenblick daran, daß es Abraxas ist, der so in Ihnen phantasiert! Der Mensch, den Sie töten möchten, ist ja nie der Herr Soundso, er ist sicher nur eine Verkleidung. Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“
Nie hatte mir Pistorius etwas gesagt, das mich so tief im Heimlichsten getroffen hatte. Ich konnte nicht antworten. Was mich aber am stärksten und sonderbarsten berührt hatte, das war der Gleichklang dieses Zuspruches mit Worten Demians, die ich seit Jahren und Jahren in mir trug. Sie wußten nichts voneinander, und beide sagten mir dasselbe.
„Die Dinge, die wir sehen,“ sagte Pistorius leise, „sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. Sinclair, der Weg der meisten ist leicht, unsrer ist schwer. — Wir wollen gehen.“
Einige Tage später, nachdem ich zweimal vergebens auf ihn gewartet hatte, traf ich ihn spät am Abend auf der Straße an, wie er einsam im kalten Nachtwinde um eine Ecke geweht kam, stolpernd und ganz betrunken. Ich mochte ihn nicht anrufen. Er kam an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und starrte vor sich hin mit glühenden und vereinsamten Augen, als folge er einem dunklen Ruf aus dem Unbekannten. Ich folgte ihm eine Straße lang, er trieb wie an unsichtbarem Draht gezogen dahin, mit fanatischem und doch aufgelöstem Gang, wie ein Gespenst. Traurig ging ich nach Hause zurück, zu meinen unerlösten Träumen.
„So erneuert er nun die Welt in sich!“ dachte ich, und fühlte noch im selben Augenblick, daß das niedrig und moralisch gedacht sei. Was wußte ich von seinen Träumen? Er ging vielleicht in seinem Rausch den sicherern Weg als ich in meiner Bangnis.
 

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