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德米安 Demian-Fünftes Kapitel Der Vogel kämpft sich aus dem Ei 2
日期:2022-08-11 14:46  点击:281
Ohne daß ich es wußte, hatte der Organist Pistorius mir eine erste Lektion gegeben, als ich mit ihm vor dem Kamin auf dem Boden seines trüben Einsiedlerzimmers lag. Das Schauen ins Feuer hatte mir gut getan, es hatte Neigungen in mir gekräftigt und bestätigt, die ich immer gehabt, doch nie eigentlich gepflegt hatte. Allmählich wurde ich teilweise darüber klar.
Schon als kleines Kind hatte ich je und je den Hang gehabt, bizarre Formen der Natur anzuschauen, nicht beobachtend, sondern ihrem eigenen Zauber, ihrer krausen, tiefen Sprache hingegeben. Lange verholzte Baumwurzeln, farbige Adern im Gestein, Flecken von Öl, das auf Wasser schwimmt, Sprünge in Glas — alle ähnlichen Dinge hatten zu Zeiten großen Zauber für mich gehabt, vor allem auch das Wasser und das Feuer, der Rauch, die Wolken, der Staub, und ganz besonders die kreisenden Farbflecke, die ich sah, wenn ich die Augen schloß. In den Tagen nach meinem ersten Besuch bei Pistorius begann dies mir wieder einzufallen. Denn ich merkte, daß ich eine gewisse Stärkung und Freude, eine Steigerung meines Gefühls von mir selbst, die ich seither spürte, lediglich dem langen Starren ins offene Feuer verdankte. Es war merkwürdig wohltuend und bereichernd, das zu tun!
An die wenigen Erfahrungen, welche ich bis jetzt auf dem Wege zu meinem eigentlichen Lebensziel gefunden hatte, reihte sich diese neue: das Betrachten solcher Gebilde, das Sichhingeben an irrationale, krause, seltsame Formen der Natur erzeugt in uns ein Gefühl von der Übereinstimmung unseres Innern mit dem Willen, der diese Gebilde werden ließ — wir spüren bald die Versuchung, sie für unsere eigenen Launen, für unsere eigenen Schöpfungen zu halten — wir sehen die Grenzen zwischen uns und der Natur zittern und zerfließen und lernen die Stimmung kennen, in der wir nicht wissen, ob die Bilder auf unserer Netzhaut von äußeren Eindrücken stammen oder von inneren. Nirgends so einfach und leicht wie bei dieser Übung machen wir die Entdeckung, wie sehr wir Schöpfer sind, wie sehr unsere Seele immerzu teilhat an der beständigen Erschaffung der Welt. Vielmehr ist es dieselbe unteilbare Gottheit, die in uns und die in der Natur tätig ist, und wenn die äußere Welt unterginge, so wäre einer von uns fähig, sie wieder aufzubauen, denn Berg und Strom, Baum und Blatt, Wurzel und Blüte, alles Gebildete in der Natur liegt in uns vorgebildet, stammt aus der Seele, deren Wesen Ewigkeit ist, deren Wesen wir nicht kennen, das sich uns aber zumeist als Liebeskraft und Schöpferkraft zu fühlen gibt.
Erst manche Jahre später fand ich einmal diese Beobachtung in einem Buche bestätigt, nämlich bei Leonardo da Vinci, der einmal davon redet, wie gut und tief anregend es sei, eine Mauer anzusehen, welche von vielen Leuten angespien worden ist. Vor jenen Flecken an der feuchten Mauer fühlte er dasselbe wie Pistorius und ich vor dem Feuer.
Bei unserem nächsten Zusammensein gab mir der Orgelspieler eine Erklärung.
„Wir ziehen die Grenzen unserer Persönlichkeit immer viel zu eng! Wir rechnen zu unserer Person immer bloß das, was wir als individuell unterschieden, als abweichend erkennen. Wir bestehen aber aus dem ganzen Bestand der Welt, jeder von uns, und ebenso wie unser Körper die Stammtafeln der Entwicklung bis zum Fisch und noch viel weiter zurück in sich trägt, so haben wir in der Seele alles, was je in Menschenseelen gelebt hat. Alle Götter und Teufel, die je gewesen sind, sei es bei Griechen und Chinesen oder bei Zulukaffern, alle sind mit in uns, sind da, als Möglichkeiten, als Wünsche, als Auswege. Wenn die Menschheit ausstürbe bis auf ein einziges halbwegs begabtes Kind, das keinerlei Unterricht genossen hat, so würde dieses Kind den ganzen Gang der Dinge wiederfinden, es würde Götter, Dämonen, Paradiese, Gebote und Verbote, Alte und Neue Testamente, alles würde es wieder produzieren können.“
„Ja, gut,“ wandte ich ein, „aber worin besteht dann noch der Wert des einzelnen? Warum streben wir noch, wenn wir doch alles in uns schon fertig haben?“
„Halt!“ rief Pistorius heftig. „Es ist ein großer Unterschied, ob Sie bloß die Welt in sich tragen, oder ob Sie das auch wissen! Ein Wahnsinniger kann Gedanken hervorbringen, die an Plato erinnern, und ein kleiner frommer Schulknabe in einem Herrnhuter Institut denkt tiefe mythologische Zusammenhänge schöpferisch nach, die bei den Gnostikern oder bei Zoroaster vorkommen. Aber er weiß nichts davon! Er ist ein Baum oder Stein, bestenfalls ein Tier, solange er es nicht weiß. Dann aber, wenn der erste Funke dieser Erkenntnis dämmert, dann wird er Mensch. Sie werden doch wohl nicht alle die Zweibeiner, die da auf der Straße laufen, für Menschen halten, bloß weil sie aufrecht gehen und ihre Jungen neun Monate tragen? Sie sehen doch, wie viele von ihnen Fische oder Schafe, Würmer oder Egel sind, wie viele Ameisen, wie viele Bienen! Nun, in jedem von ihnen sind die Möglichkeiten zum Menschen da, aber erst, indem er sie ahnt, indem er sie teilweise sogar bewußt machen lernt, gehören diese Möglichkeiten ihm.“
Etwa dieser Art waren unsere Gespräche. Selten brachten sie mir etwas völlig Neues, etwas ganz und gar Überraschendes. Alle aber, auch das banalste, trafen mit leisem stetigen Hammerschlag auf denselben Punkt in mir, alle halfen an mir bilden, alle halfen Häute von mir abstreifen, Eierschalen zerbrechen, und aus jedem hob ich den Kopf etwas höher, etwas freier, bis mein gelber Vogel seinen schönen Raubvogelkopf aus der zertrümmerten Weltschale stieß.
Häufig erzählten wir auch einander unsere Träume. Pistorius verstand ihnen eine Deutung zu geben. Ein wunderliches Beispiel ist mir eben erinnerlich. Ich hatte einen Traum, in dem ich fliegen konnte, jedoch so, daß ich gewissermaßen von einem großen Schwung durch die Luft geschleudert wurde, dessen ich nicht Herr war. Das Gefühl dieses Fluges war erhebend, ward aber bald zur Angst, als ich mich willenlos in bedenkliche Höhen gerissen sah. Da machte ich die erlösende Entdeckung, daß ich mein Steigen und Fallen durch Anhalten und Strömenlassen des Atems regeln konnte.
Dazu sagte Pistorius: „Der Schwung, der Sie fliegen macht, das ist unser großer Menschheitsbesitz, den jeder hat. Es ist das Gefühl des Zusammenhangs mit den Wurzeln jeder Kraft, aber es wird einem dabei bald bange! Es ist verflucht gefährlich! Darum verzichten die meisten so gerne auf das Fliegen und ziehen es vor, an Hand gesetzlicher Vorschriften auf dem Bürgersteige zu wandeln. Aber Sie nicht. Sie fliegen weiter, wie es sich für einen tüchtigen Burschen gehört. Und siehe, da entdecken Sie das Wunderliche, daß Sie allmählich Herr darüber werden, daß zu der großen allgemeinen Kraft, die Sie fortreißt, eine feine, kleine, eigene Kraft kommt, ein Organ, ein Steuer! Das ist famos. Ohne das ginge man willenlos in die Lüfte, das tun zum Beispiel die Wahnsinnigen. Ihnen sind tiefere Ahnungen gegeben als den Leuten auf dem Bürgersteig, aber sie haben keinen Schlüssel und kein Steuer dazu, und sausen ins Bodenlose. Sie aber, Sinclair, Sie machen die Sache! Und wie, bitte. Das wissen Sie wohl noch gar nicht? Sie machen es mit einem neuen Organ, mit einem Atemregulator. Und nun können Sie sehen, wie wenig ‚persönlich‘ Ihre Seele in ihrer Tiefe ist. Sie erfindet nämlich diesen Regulator nicht! Er ist nicht neu! Er ist eine Anleihe, er existiert seit Jahrtausenden. Er ist das Gleichgewichtsorgan der Fische, die Schwimmblase. Und tatsächlich gibt es ein paar wenige seltsame und konservative Fischarten noch heute, bei denen die Schwimmblase zugleich eine Art Lunge ist und unter Umständen richtig zum Atmen dienen kann. Also haargenau wie die Lunge, die Sie im Traum als Fliegerblase benutzen!“
Er brachte mir sogar einen Band Zoologie und zeigte mir Namen und Abbildungen jener altmodischen Fische. Und ich fühlte in mir, mit einem eigentümlichen Schauer, eine Funktion aus frühen Entwicklungsepochen lebendig. 

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