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BERLIN FU:Lesetext
日期:2022-06-06 10:50  点击:251
Freie Universität Berlin
ZE Sprachenzentrum
Bereich Deutsch als Fremdsprache
Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH)
Muster: Leseverstehen
Denken ist die beste Heilung
 
  Als eines Tages die 39 Jahre alte Jennifer M. im späten Winter die Schmerzklinik in derNähe von Los Angelos betrat, legte sie ärztliche Atteste vor, die sie als chronische Schmerzpatientinauswiesen. Sie selber hatte sich nur widerwillig von ihrem Mann zu diesem für sieletzten Versuch überreden lassen, ihre mittlerweile alle vier Tage auftretenden Schmerz-5 attacken loszuwerden. Nach sechsjähriger zermürbender Behandlung war sie eher bereit,Kopfschmerzen als ihr Schicksal aufzufassen und sich damit abzufinden, mittlerweileschmerzmittelabhängig zu sein.
  
  Sechs Monate später kehrte die Amerikanerin in ihre Familie zurück. Sie konnte nicht nur10 wieder den Haushalt mit den drei Kindern führen, sondern nahm auch nach dreijährigerKrankheitspause ihren Beruf als Personalleiterin eines Bürokonzerns wieder auf. Jennifer M.
  
  gilt als langfristig geheilt. Medikamente hatte man ihr in dieser von Psychologen1 geleitetenKlinik kaum gegeben – allenfalls geringe Dosen im Rahmen einer Entziehungskur. Geholfenhaben ihr Mittel und Möglichkeiten, über die sie potentiell schon verfügte – ihr Gehirn bzw.
  
  15 ihr Denkvermögen und die Art und Weise, es einzusetzen.
  
  Seit längerem beruhen die Therapien in modernen Schmerzkliniken auf der Einsicht, dassunser Denken Einfluss auf körperliche und geistige Prozesse hat. Es ist nicht nur amEntstehen von Kopfschmerzen beteiligt, sondern oft auch verantwortlich dafür, dass die20 Attacken immer schwerer werden oder gar einen chronischen Verlauf nehmen. Daher liegthier der Ansatz des Therapiekonzeptes: Werden nämlich angestammte Denkmuster desPatienten aufgebrochen, werden neue etabliert, verändert sich der Einfluss des Denkens aufden Organismus und die Psyche. Der Patient hat es so in gewisser Weise selbst in der Handsich zu heilen, indem er anders, konstruktiver denkt.
  
  25Die Behandlung, der sich auch Jennifer M. unterzog, folgt im Wesentlichen einem Prinzip:Nicht der körperliche Schmerz ist die Hauptsache, sondern die Art und Weise, wie der Patientseine Schmerzen bedenkt und bewertet. Denn wer Kopfschmerzen hat, pflegt aucheinen individuellen Umgang mit seinem Leiden. Persönliche Denkmuster stellen sich ein, die30 bald ebenso verkrustet sind wie das Krankheitsbild selbst, so dass der Patient nicht mehr bemerkt,dass es die eigene Denkstruktur ist, die ihn krank macht.
  
  Die kalifornischen Therapeuten machten es zunächst zu ihrer Aufgabe, bei Jennifer das ihrselber unbewusste System von Wahrnehmungen und ihren Interpretationen aufzuspüren, mit35 denen sie gewohnheitsmäßig ihre Schmerzattacken begleitete oder gar auf sie wartete. Inder zweiten Behandlungsphase gab man ihr Mittel und Trainingsmöglichkeiten an die Hand,so dass sie neue Einschätzungen und Bewertungen entwickelte. Der Druck in ihrem Kopferhielt dadurch heilende Ventile. Jennifer M. gelang es so, sich selbst zu behandeln – eineMethode, die Langzeiterfolge möglich macht.
  
  40Die neue kalifornische Studie bemühte sich erstmals in der Schmerzforschung um eine geschlechtsspezifischeDifferenzierung: Warum leiden mehr Frauen als Männer unter Kopf-1 Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Text auf das Splitting verzichtet und stattdessen dasgenerische Maskulinum verwendet.
  
  schmerzen? Jennifer M. war eine der 400 Untersuchungsteilnehmer. Zu Beginn wunderte siesich darüber, dass sich niemand um ihre Kopfschmerzen zu kümmern schien. Stattdessen45 hagelte es Fragebögen, Tests und Interviews, um ein genaues Bild ihrer gesamten Persönlichkeitzu erstellen. Die Therapeuten bzw. Psychologen wollten wissen, wie hoch der Gradder Selbstaufmerksamkeit bei ihren Patienten ist. Im Ergebnis zeigt sich, dass die 200weiblichen Probanden sensibler als die Männer den „Blick nach innen“ richteten, d.h. zugrößerer Selbstbeobachtung neigten und körperliche Vorgänge aufmerksamer registrierten.
  
  50 Nach Ansicht der Psychologen kann dies zu einer Überempfindlichkeit führen.
  
  Gefragt wurden die Patienten auch ausgiebig danach, wie anfällig sie Stimmungen gegen-über sind. Wer stark wechselnden Stimmungen ausgesetzt ist, empfindet im Stimmungstief,z.B. ausgelöst durch Angst oder Stress, körperliche Beschwerden vehementer. Kommt eine55 gedanklich oder gefühlsmäßig intensive Beschäftigung mit dem Schmerz, gar eine ausgesprochennegative Bewertung hinzu, so kann sich der Schmerz hochschaukeln. Ein Teufelskreisbeginnt.
  
  Der dritte Fragenkomplex konzentrierte sich auf den Flucht- und Vermeidungscharakter, der60 körperlichen Beschwerden und Krankheiten innewohnen kann. Denn die Psychologengingen in einer weiteren Hypothese davon aus, dass anfallsartige Kopfschmerzattackeneinen Zweck erfüllen können, nämlich Unangenehmem aus dem Weg zu gehen. So könnenaus vagen Beschwerden heftige Anfälle werden, wenn damit belastende Situationen umschifftwerden können. Die Psychologen erteilten daher ihren Patienten die Aufgabe aufzu-65 schreiben, wann genau die Kopfschmerzen auftraten. Sie wollten dem sekundären Krankheitsgewinnauf die Spur kommen.
  
  Jennifer M. erkannte auf diese Weise (und in vielen Gesprächen über ihre Biographie), dassihre Beschwerden in einer Zeit begonnen hatten, als sie den allsonntäglichen Besuch ihrer70 Mutter auf Grund von Arbeitsüberlastung kaum mehr ertragen konnte. Statt sich mitzuteilen,bekam sie bereits am Vortag Kopfschmerzen. Diese Anfälle erwiesen sich als so erfolgreich– die Mutter nahm Rücksicht –, dass sie unbewusst ihre Schmerzanfälle zu einem vielfachverzweigten Tunnelsystem der Flucht vor unangenehmen Lebenssituationen ausbaute. Siebezahlte mit körperlichen Schmerzen.
  
  75Als Ursprung von Jennifers Kopfschmerzen wurde eine Unfähigkeit zur Entscheidung undeine allgemeine Lebensängstlichkeit erkannt. Später nahmen ihr dann die Kopfschmerzenjede Entscheidung ab. Sie konnte ein psychisches Symptom durch ein körperliches ersetzen– für die behandelnden Psychologen ein klassisches Beispiel. Am Beginn der Therapie steht80 daher immer eine individuelle Forschungsreise: Was gewinnt der Patient durch seine Krankheit?

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