Es kam ein schöner Herbstsonntag, und drüben in Riva sollte am Abend Tanz sein und Rico hinüberfahren, um zu spielen. So konnte er den Tag nicht mit Stineli und den anderen zubringen; das war schon mehrmals verhandelt worden die Woche durch, denn es war ein Ereignis für alle, wenn Rico nicht kam, und Stineli suchte alles mögliche hervor, um der Sache noch eine gute Seite abzugewinnen: »Du fährst dann im Sonnenschein über den See und kommst unter dem Sternenhimmel wieder zurück, und wir denken die ganze Zeit an dich«, hatte es ihm gesagt, als er zuerst anzeigte, daß ein Tanzsonntag folge.
Rico kam am Samstagabend mit seiner Geige, denn Stinelis größte Freude war sein Spiel. Rico spielte schöne Weisen, eine nach der anderen, aber sie waren alle traurig,[110] und es war auch, als machten sie ihn wieder traurig, denn er schaute auf seine Geige mit einer Düsterkeit, als tue sie ihm das größte Leid an.
Auf einmal steckte er seinen Bogen weg, lang noch ehe es zehn geschlagen hatte, und sagte: »Ich will gehen.«
Frau Menotti wollte ihn festhalten, sie begriff nicht, was ihm einfiel. Stineli hatte ihn immer angesehen, während er spielte; jetzt sagte es nur: »Ich gehe noch ein paar Schritte mit dir.«
»Nein!« rief Silvio, »geh nicht fort, bleib da, Stineli!«
»Ja, ja, Stineli«, sagte Rico, »bleib du nur da und laß mich gehen!«
Dabei sah er Stineli gerade so an wie damals, als er vom Lehrer weg dem Holzstoß zu kam und sagte: »Es ist alles verloren!«
Stineli ging zu Silvios Bett und sagte leise: »Sei brav, Silvio; morgen erzähl’ ich dir die allerlustigste Geschichte vom Peterli, aber mach jetzt keinen Lärm.«
Silvio hielt sich wirklich still, und Stineli ging dem Rico nach. Als sie am Gartenzaun standen, kehrte Rico sich um und deutete auf die erleuchtete Stube, die so wohnlich aussah vom Garten her, und sagte:
»Geh wieder, Stineli; dort gehörst du hinein und bist daheim dort, und ich gehöre auf die Straße, ich bin nur ein Heimatloser, und so wird es immer sein; darum laß mich nur gehen!«
»Nein, nein, so lass’ ich dich nicht gehen; Rico, wo gehst du jetzt hin?«
»An den See«, sagte Rico und ging der Brücke zu. Stineli ging mit. Als sie an der Halde standen, hörten[111] sie unten die leisen Wellen flüstern und lauschten eine Weile. Dann sagte Rico:
»Siehst du, Stineli, wenn du nicht da wärst, so ginge ich gleich fort, weit fort, aber ich wüßte auch nicht wohin. Ich muß doch immer ein Heimatloser sein und mein ganzes Leben lang so in Wirtshäusern geigen, wo sie lärmen, wie wenn sie von Sinnen wären, und in einer Kammer schlafen, wo ich lieber nicht mehr hineinginge; und du gehörst nun zu ihnen in das schöne Haus, und ich gehöre nirgends hin. Und siehst du, wenn ich da hinabsehe, so denke ich: hätte mich doch die Mutter hier hineingeworfen, ehe sie sterben mußte, so wäre ich kein Heimatloser geworden.«
Stineli hatte mit Kummer im Herzen dem Rico zugehört; aber wie er diese letzten Worte sagte, da bekam es einen großen Schrecken und rief aus: »O Rico, so etwas darfst du gar nicht sagen. Du hast gewiß lange dein Unser-Vater nicht mehr gebetet, darum sind dir diese bösen Gedanken gekommen.«
»Nein, ich habe es nicht mehr gebetet, ich kann es nicht mehr.«
Das war dem Stineli ein erschreckliches Wort.
»O, wenn das die Großmutter wüßte, Rico«, rief es jammernd aus, »sie müßte noch einen rechten Kummer für dich ausstehen. Weißt du, wie sie gesagt hat: ›Wer sein Unser-Vater vergißt, dem geht es schlecht!‹ O komm, Rico, du mußt es wieder lernen, ich will dich’s gleich lehren. Du kannst es bald wieder.«
Und Stineli fing an und sagte mit warmer Teilnahme seines Herzens zweimal hintereinander dem Rico das Unser-Vater vor. Wie es nun so tief beteiligt den Worten[112] folgte, so bemerkte Stineli, daß da gerade für den Rico viel Trostreiches darin vorkam, und wie es zu Ende war, sagte es:
»Siehst du, Rico, weil doch dem lieben Gott das ganze Reich gehört, so kann er dir schon noch eine Heimat finden, und ihm gehört auch alle Kraft, daß er sie dir geben kann.«
»Jetzt kannst du sehen, Stineli«, entgegnete Rico, »wenn der liebe Gott eine Heimat in seinem Reich für mich hätte und auch die Kraft hat, daß er mir sie geben könnte, so will er nicht.«
»Ja, aber du mußt auch etwas bedenken«, fuhr Stineli fort, »der liebe Gott kann auch bei sich selbst sagen: ›Wenn der Rico etwas von mir will, so kann er auch einmal beten und kann mir’s sagen.‹«
Dagegen wußte Rico nichts mehr einzuwenden. Er schwieg eine kleine Weile, dann sagte er:
»Sag noch einmal das Unser-Vater, ich will’s wieder lernen.«
Stineli sagte es noch einmal, dann konnte es der Rico wieder und hatte sich’s recht eingeprägt. Nun gingen sie friedlich heim, jedes auf seine Seite, und Rico mußte noch immer an das Reich und die Kraft denken.
An dem Abend aber, wie er in seiner stillen Kammer war, betete er von Herzen demütig, denn er fühlte, daß er im Unrecht war, zu denken, der liebe Gott sollte ihm geben, was ihm mangelte, und er hatte ihn ja gar nie darum gebeten.
Stineli trat gedankenvoll in den Garten ein. Es erwog bei sich selbst, ob es über alles mit der Frau Menotti reden wollte; vielleicht könnte sie für den Rico eine[113] andere Beschäftigung finden, als dies Geigen zum Tanz in den Wirtshäusern, das ihm so zuwider war. Aber der Gedanke, die Frau Menotti mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen, verging ihm, als es in die Stube eingetreten war. Silvio lag glühendrot auf seinem Kissen und atmete heftig und ungleich, und am Bette saß die Mutter und weinte ganz kläglich. Silvio hatte einmal wieder einen seiner Anfälle und große Schmerzen gehabt, und ein wenig Zorn, daß das Stineli fort war, mochte das Fieber noch vermehrt haben. Die Mutter war so niedergeschlagen, wie Stineli sie noch nie gesehen hatte. Als sie sich endlich ein wenig ermuntern konnte, sagte sie:
»Komm, Stineli, setz dich da neben mich, ich möchte dir etwas sagen. Sieh, es liegt mir etwas so schwer auf dem Herzen, daß ich manchmal meine, ich könne es fast nicht mehr tragen. Du bist freilich jung, aber du bist ein vernünftiges Mädchen und hast schon viel gesehen, und ich meine, es würde mir schon leichter werden, wenn ich mit dir darüber reden könnte. Du siehst ja, wie es mit dem Silvio ist, mit meinem einzigen Söhnlein. Nun habe ich aber nicht nur das Leid seiner Krankheit, die ja nie heilen kann, sondern ich muß oft bei mir selbst sagen: es ist vielleicht eine Strafe von Gott, weil wir unrechtes Gut behalten haben und genießen, wenn wir es schon nicht an uns ziehen und behalten wollten. Ich will dir’s aber von Anfang an erzählen.
»Als wir uns verheirateten, der Menotti und ich – er hatte mich von Riva herübergeholt, wo mein Vater noch ist –, da hatte Menotti hier einen guten Freund, der wollte eben fort, weil ihm das Land verleidet war, denn[114] er hatte seine Frau verloren. Er hatte ein Häuschen und einen großen Acker und Feld, nicht besonders gutes Land, aber eine große Strecke. Da wollte er, daß mein Mann alles übernehme, und sagte, das Land trage ja nicht so viel, er solle es ihm in Ordnung halten und das Haus dazu, bis er wiederkomme in ein paar Jahren. So machten es die Freunde aus, und sie hielten viel voneinander und machten nichts aus wegen Zinsen. Mein Mann sagte: ›Du mußt deine Sache recht haben, wenn du wiederkommst‹, denn er wollte alles gut verwerten und verstand sich auf den Landbau, und sein Freund wußte es wohl und überließ ihm alles. Aber gleich ein Jahr darauf wurde die Eisenbahn gebaut, das Häuschen mußte weg mit dem Garten, und der Acker wurde gebraucht, der Schienenweg geht darüber. So löste mein Mann viel mehr Geld, als jenes wert war, und kaufte hier weiter unten gutes Land und den Garten und baute das Haus, alles aus dem Geld, und das Land trug mehr als das Doppelte ein hier unten, so daß wir die reichsten Ernten hatten. Ich sagte aber manchmal zu meinem Mann: ›Es gehört uns doch nicht, und wir leben im Überfluß aus dem Gut eines anderen; wenn wir nur wüßten, wo er wäre!‹ Aber mein Mann beruhigte mich und sagte: ›Ich halte ihm alles in Ordnung, und wenn er kommt, ist alles sein, und vom Gewinn, den ich beiseite gelegt, muß er auch seinen Teil haben.‹
»Dann bekamen wir den Silvio, und wie ich entdeckte, daß das Büblein elend war, da mußte ich mehr und mehr zu meinem Mann sagen: ›Wir leben von unrechtem Gut, es ist eine Strafe über uns.‹ Und manchmal war es mir so schwer, daß ich fast lieber arm gewesen wäre und ohne[115] Obdach. Aber mein Mann tröstete mich wieder und sagte: ›Du wirst sehen, wie er mit mir zufrieden sein wird, wenn er kommt.‹ Aber er kam nie. Da starb mein Mann schon vor vier Jahren; ach, was habe ich seitdem ausgestanden und muß immer denken: wie kann ich nur dem unrechten Gut abkommen ohne Unrecht, denn ich sollte es doch in guter Ordnung halten, bis der Freund wiederkommt, und dann denk’ ich wieder: wenn er nun irgendwo im Elend wäre und ich lebe unterdessen so gut aus dem Seinigen und weiß nichts von ihm.«
Stineli hatte ein großes Mitleid mit der Frau Menotti, denn es konnte sich so gut denken, wie es der Frau zumute war, die sich ein Unrecht vorwarf, das sie nicht ändern konnte. Und es tröstete die Frau Menotti und sagte ihr: wenn man ein Unrecht gar nicht wolle und es so gern gut machen möchte, dann dürfe man recht zuversichtlich den lieben Gott bitten, daß er helfe, denn er könne schon etwas Gutes machen aus dem, was wir verkehrt gemacht haben, und er wolle es auch tun, wenn es uns um das Verkehrte recht leid sei. Das wisse es alles von der Großmutter her, denn es habe sich auch einmal nicht mehr zu helfen gewußt und eine große Angst ausgestanden.