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Buddenbrooks-Zehnter Teil-Sechstes Kapitel
日期:2022-04-12 15:27  点击:300
Im Herbst sagte Doktor Langhals, indem er seine schönen Augen spielen ließ wie eine Frau: »Die Nerven, Herr Senator … an allem sind bloß die Nerven schuld. Und hie und da läßt auch die Blutzirkulation ein wenig zu wünschen übrig. Darf ich mir einen Ratschlag erlauben? Sie sollten sich dieses Jahr noch ein bißchen ausspannen! Diese paar Seeluft-Sonntage im Sommer haben natürlich nicht viel vermocht … Wir haben Ende September, Travemünde ist noch in Betrieb, es ist noch nicht vollständig entvölkert. Fahren Sie hin, Herr Senator, und setzen Sie sich noch ein wenig an den Strand. Vierzehn Tage oder drei Wochen reparieren schon manches …«
 
Und Thomas Buddenbrook sagte Ja und Amen hierzu. Als aber die Seinen von dem Entschlusse erfuhren, erbot sich Christian, ihn zu begleiten.
 
»Ich gehe mit, Thomas«, sagte er einfach. »Du hast wohl nichts dagegen.« Und obgleich der Senator eigentlich eine Menge dagegen hatte, sagte er abermals Ja und Amen.
 
Die Sache war die, daß Christian jetzt mehr als jemals Herr seiner Zeit war, denn wegen schwankender Gesundheit hatte er sich genötigt gesehen, auch seine letzte kaufmännische Tätigkeit, die Champagner- und Kognakagentur, fahren zu lassen. Das Trugbild eines Mannes, der in der Dämmerung auf seinem Sofa saß und ihm zunickte, hatte sich erfreulicherweise nicht wiederholt. Aber mit der periodischen »Qual« in seiner linken Seite war es womöglich noch schlimmer geworden, und Hand in Hand mit ihr ging eine große Anzahl anderer Unzuträglichkeiten, die Christian sorgfältig beobachtete und mit krauser Nase schilderte, wo er ging und stand. Oftmals, wie schon früher, versagten beim Essen seine Schluckmuskeln, so daß er, den Bissen im Halse, dasaß und seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen wandern ließ. Oftmals, wie schon früher, litt er an dem unbestimmten aber unbesiegbaren Furchtgefühl vor einer plötzlichen Lähmung seiner Zunge, seines Schlundes, seiner Extremitäten, ja sogar seines Denkvermögens. Zwar wurde nichts an ihm gelähmt; aber war nicht die Furcht davor beinahe noch schlimmer? Er erzählte ausführlich, wie er eines Tages, als er sich Tee bereitete, das brennende Zündholz statt über den Kochapparat über die offene Spiritusflasche gehalten habe, so daß beinahe nicht nur er selbst, sondern auch die übrigen Hausbewohner, ja, vielleicht auch die der Nachbarhäuser auf fürchterliche Weise umgekommen wären … Dies ging zu weit. Was er aber mit besonderer Ausführlichkeit, Eindringlichkeit und Anstrengung, sich ganz verständlich zu machen, beschrieb, war eine scheußliche Anomalie, die er in letzter Zeit an sich wahrgenommen hatte und die darin bestand, daß er an gewissen Tagen, das heißt bei gewisser Witterung und Gemütsverfassung, kein offenes Fenster sehen konnte, ohne von dem gräßlichen und durch nichts gerechtfertigten Drange befallen zu werden, hinauszuspringen … einem wilden und kaum unterdrückbaren Triebe, einer Art von unsinnigem und verzweifeltem Übermut! Eines Sonntages, als die Familie in der Fischergrube speiste, beschrieb er, wie er unter Aufbietung aller moralischen Kräfte auf Händen und Füßen habe zum offenen Fenster kriechen müssen, um es zu schließen … Hier aber schrie alles auf, und niemand wollte ihm weiter zuhören.
 
Diese und ähnliche Dinge konstatierte er mit einer gewissen schauerlichen Genugtuung. Was er aber nicht beobachtete und nicht feststellte, was ihm unbewußt blieb und sich darum beständig verschlimmerte, war der sonderbare Mangel an Taktgefühl, der ihm mit den Jahren immer mehr zu eigen geworden war. Es war schlimm, daß er im Familienkreise Anekdoten erzählte, so geartet, daß er sie höchstens im Klub hätte vorbringen dürfen. Aber es gab auch direkte Anzeichen dafür, daß sein Sinn für körperliche Schamhaftigkeit im Erlahmen begriffen war. In der Absicht, seiner Schwägerin Gerda, mit der er auf freundschaftlichem Fuße stand, zu zeigen, wie durabel gearbeitet seine englischen Socken seien, und wie mager er übrigens geworden sei, gewann er es über sich, vor ihren Augen sein weites, kariertes Beinkleid bis hoch über das Knie zurückzuziehen … »Da sieh, wie mager ich werde … Ist es nicht auffällig und sonderbar?« sagte er bekümmert, indem er mit krauser Nase auf sein knochiges und stark nach außen gekrümmtes Bein in der weißwollenen Unterhose zeigte, unter der sich das hagere Knie trübselig abzeichnete …
 
Er hatte, wie gesagt, jetzt jede kaufmännische Tätigkeit fahren lassen; aber diejenigen Stunden am Tage, die er nicht im »Klub« verbrachte, suchte er doch auf verschiedene Weise auszufüllen, und er liebte es, ausdrücklich hervorzuheben, daß er trotz aller Behinderungen niemals vollständig aufgehört habe zu arbeiten. Er erweiterte seine Sprachkenntnisse und hatte, der Wissenschaft halber und ohne praktischen Endzweck, kürzlich begonnen, Chinesisch zu lernen, worauf er vierzehn Tage lang viel Fleiß verwendet hatte. Zur Zeit war er damit beschäftigt, ein englisch-deutsches Lexikon, das ihm unzulänglich schien, zu »ergänzen«; aber, da eine kleine Luftveränderung ihm sowieso einmal wieder not tat und da es schließlich ja wünschenswert war, daß der Senator irgendwelche Begleitung hatte, so vermochte dies Geschäft jetzt nicht, ihn in der Stadt festzuhalten …
 
Die beiden Brüder fuhren an die See; sie fuhren, indes der Regen auf das Verdeck des Wagens trommelte, auf der Landstraße dahin, die nur eine Pfütze war, und sprachen beinahe kein Wort. Christian ließ seine Augen wandern, als horche er auf irgend etwas Verdächtiges; Thomas saß fröstelnd in seinen Mantel gehüllt, mit müde blickenden, geröteten Augen, und die langausgezogenen Spitzen seines Schnurrbartes überragten starr seine weißlichen Wangen. So fuhren sie nachmittags in den Kurgarten ein, in dessen verschwemmtem Kies die Räder knirschten. Der alte Makler Sigismund Gosch saß in der Glasveranda des Hauptgebäudes und trank Grog von Rum. Er stand auf, indem er durch die Zähne zischte, und dann setzten sie sich zu ihm, um, während die Koffer hinaufgetragen wurden, auch ihrerseits etwas Warmes zu genießen.
 
Herr Gosch war ebenfalls noch Kurgast, gleich einigen wenigen Leuten, einer englischen Familie, einer ledigen Holländerin und einem ledigen Hamburger, die jetzt mutmaßlich ihr Schläfchen vor der Table d'hote hielten, denn es war überall totenstill, und nur der Regen planschte. Mochten sie schlafen. Herr Gosch schlief am Tage nicht. Er war froh, wenn er sich zur Nacht ein paar Stunden Bewußtlosigkeit erobern konnte. Es ging ihm nicht gut, er gebrauchte diese späte Luftkur gegen das Zittern, das Zittern in seinen Gliedmaßen … verflucht! er konnte kaum noch das Grogglas halten, und – teuflischer! – er konnte nur selten noch schreiben, so daß es mit der Übersetzung von Lope de Vegas sämtlichen Dramen jämmerlich langsam vorwärts ging. Er war in sehr gedrückter Stimmung, und seine Gotteslästerungen waren ohne die rechte Freudigkeit. »Laß fahren dahin!« sagte er, und dies schien seine Lieblingsredensart geworden zu sein, denn er wiederholte sie beständig und oftmals ganz außer dem Zusammenhange.
 
Und der Senator? Was war es mit ihm? Wie lange gedachten die Herren zu bleiben?
 
Ach, Doktor Langhals habe ihn der Nerven wegen hergeschickt, antwortete Thomas Buddenbrook. Er habe natürlich gehorcht, trotz dieses Hundewetters, denn was tue man nicht aus Furcht vor seinem Arzte! Er fühlte sich ja wirklich ein wenig miserabel. Sie würden eben bleiben, bis es ihm besser gehe …
 
»Ja, übrigens geht es auch mir sehr schlecht«, sagte Christian voll Neid und Erbitterung, daß Thomas nur von sich sprach; und er war im Begriffe, von dem nickenden Manne, der Spiritusflasche und dem offenen Fenster zu berichten, als sein Bruder aufbrach, um die Zimmer in Besitz zu nehmen.
 
Der Regen ließ nicht nach. Er zerwühlte den Boden und tanzte in springenden Tropfen auf der See, die, vom Südwest überschauert, vom Strande zurückwich. Alles war in Grau gehüllt. Die Dampfer zogen wie Schatten und Geisterschiffe vorüber und verschwanden am verwischten Horizont.
 
Mit den fremden Gästen traf man nur beim Essen zusammen. Der Senator ging mit dem Makler Gosch in Gummimantel und Galoschen spazieren, indes Christian droben in der Konditorei mit der Büfettdame schwedischen Punsch trank.
 
Zwei- oder dreimal, an Nachmittagen, da es aussah, als ob die Sonne hervorkommen wollte, erschienen zur Table d'hote ein paar Bekannte aus der Stadt, die sich gern ein wenig unabhängig von ihren Angehörigen unterhielten: Senator Doktor Gieseke, Christians Schulkamerad, und Konsul Peter Döhlmann, der übrigens schlecht aussah, weil er sich durch maßlosen Gebrauch von Hunyadi-Janos-Wasser verdarb. Dann setzten sich die Herren in ihren Paletots unter das Zeltdach der Konditorei, gegenüber dem Musiktempel, in dem nicht mehr musiziert wurde, tranken ihren Kaffee und verdauten ihre fünf Gänge, indem sie in den herbstlichen Kurgarten hinausblickten und plauderten …
 
Die Ereignisse der Stadt, das letzte Hochwasser, das in viele Keller gedrungen, und bei dem man in den unteren Gruben mit Booten gefahren war, eine Feuersbrunst, ein Schuppenbrand am Hafen, eine Senatswahl wurden besprochen … Alfred Lauritzen, in Firma Stürmann & Lauritzen, Kolonialwaren en gros & en détail, war vorige Woche gewählt worden, und Senator Buddenbrook war nicht einverstanden damit. Er saß in seinen Kragenmantel gehüllt, rauchte Zigaretten und warf nur an diesem Punkte des Gespräches ein paar Bemerkungen ein. Er habe Herrn Lauritzen seine Stimme nicht gegeben, sagte er, soviel sei sicher. Lauritzen sei ein ehrenfester Mensch und ein vortrefflicher Kaufmann, ohne Frage; aber er sei Mittelstand, guter Mittelstand, sein Vater habe noch eigenhändig den Dienstmädchen die sauren Heringe aus der Tonne geholt und eingewickelt … und jetzt habe man den Inhaber eines Detailgeschäftes im Senate. Sein, Thomas Buddenbrooks, Großvater habe sich mit seinem ältesten Sohne überworfen, weil dieser einen Laden erheiratet habe; so seien die Dinge damals gewesen. »Aber das Niveau sinkt, ja, das gesellschaftliche Niveau des Senates ist im Sinken begriffen, der Senat wird demokratisiert, lieber Gieseke, und das ist nicht gut. Kaufmännische Tüchtigkeit tut es doch nicht so ganz, meiner Meinung nach sollte man nicht aufhören, ein wenig mehr zu verlangen. Alfred Lauritzen mit seinen großen Füßen und seinem Bootsmannsgesicht im Ratssaal zu denken, beleidigt mich … ich weiß nicht, was in mir. Es ist gegen alles Stilgefühl, kurzum, eine Geschmacklosigkeit.«
 
Aber Senator Gieseke war etwas pikiert. Schließlich war er auch nur der Sohn eines Branddirektors … Nein, dem Verdienste seine Krone. Dafür sei man Republikaner. »Übrigens sollten Sie nicht so viele Zigaretten rauchen, Buddenbrook, Sie haben ja gar nichts von der Seeluft.«
 
»Ja, nun höre ich auf«, sagte Thomas Buddenbrook, warf das Mundstück fort und schloß die Augen.
 
Träge, während der Regen, der unausbleiblich wieder einsetzte, die Aussicht verschleierte, glitt das Gespräch dahin. Man kam auf den letzten Skandal der Stadt, eine Wechselfälschung, auf Großkaufmann Kaßbaum, P. Philipp Kaßbaum & Co., der nun hinter Schloß und Riegel saß. Man ereiferte sich durchaus nicht; man nannte Herrn Kaßbaums Tat eine Dummheit, lachte kurz und zuckte die Achseln. Senator Doktor Gieseke erzählte, daß der Großkaufmann übrigens bei gutem Humor geblieben sei. An seinem neuen Aufenthaltsort habe er sogleich einen Toilette-Spiegel verlangt, der in seiner Zelle gefehlt habe. »Ich sitze hier ja nicht Jahre, sondern Jahren«, hatte er gesagt; »da muß ich doch einen Spiegel haben!« – Er war, wie Christian Buddenbrook und Andreas Gieseke, ein Schüler des seligen Marcellus Stengel gewesen.
 
Ohne die Miene zu verziehen, lachten die Herren wieder kurz durch die Nase. Sigismund Gosch bestellte Grog von Rum, mit einer Betonung, als wollte er ausdrücken: Was soll das schlechte Leben nützen?… Konsul Döhlmann sprach einer Flasche Aquavit zu, und Christian war wieder beim schwedischen Punsch angelangt, den Senator Gieseke für sich und ihn hatte kommen lassen. Es dauerte nicht lange, bis Thomas Buddenbrook wieder zu rauchen begann.
 
Und immer in einem trägen, wegwerfenden und skeptisch fahrlässigen Ton, gleichgültig und schwer gesinnt vom Essen, vom Trinken und vom Regen, sprach man von Geschäften, den Geschäften jedes einzelnen; aber auch dies Thema belebte niemanden.
 
»Ach, dabei ist nicht viel Freude«, sagte Thomas Buddenbrook mit schwerer Brust und legte angewidert den Kopf über die Stuhllehne zurück.
 
»Nun, und Sie, Döhlmann?« erkundigte sich Senator Gieseke und gähnte … »Sie haben sich gänzlich dem Aquavit ergeben, wie?«
 
»Wovon soll der Schornstein rauchen«, sagte der Konsul. »Ich gucke alle paar Tage mal ins Kontor. Kurze Haare sind bald gekämmt.«
 
»Und alles Wichtige haben ja doch Strunck & Hagenström in Händen«, bemerkte trübe der Makler Gosch, der seinen Ellenbogen weit vor sich hin auf den Tisch gestützt hatte und den bösartigen Greisenkopf in der Hand ruhen ließ.
 
»Gegen einen Haufen Mist kann man nicht anstinken«, sagte Konsul Döhlmann mit einer so geflissentlich ordinären Aussprache, daß jedermann wie durch einen hoffnungslosen Zynismus trübe gestimmt werden mußte. »Na, und Sie, Buddenbrook, tun Sie noch was?«
 
»Nein«, antwortete Christian; »ich kann es nun nicht mehr.« Und ohne Übergang, lediglich aus seinem Verständnis der herrschenden Stimmung heraus, und aus dem Bedürfnis, sie zu vertiefen, begann er plötzlich, den Hut schräg in die Stirn geschoben, von seinem Kontor in Valparaiso und von Johnny Thunderstorm zu sprechen … »Ha, bei der Hitze. Du lieber Gott!… Arbeiten? No, Sir, wie Sie sehen, Sir!« Und dabei hatten sie dem Chef ihren Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen. Du lieber Gott!… Seine Mienen und Bewegungen drückten unübertrefflich eine zugleich frech herausfordernde und gutmütig verbummelte Trägheit aus. Sein Bruder rührte sich nicht.
 
Herr Gosch versuchte, seinen Grog zum Munde zu führen, stellte ihn zischend auf den Tisch zurück und hieb sich selbst mit der Faust auf den widerspenstigen Arm, worauf er das Glas aufs neue an seine schmalen Lippen riß, mehreres verschüttete und den Rest in Wut auf einmal hinuntergoß.
 
»Ach, Sie mit Ihrem Zittern, Gosch!« sagte Döhlmann. »Sie sollten sich's mal gehen lassen wie mir. Dies verfluchte Hunyadi-János … Ich krepiere, wenn ich nicht täglich meinen Liter trinke, soweit bin ich, und wenn ich ihn trinke, so krepiere ich erst recht. Wissen Sie, wie es tut, wenn man niemals, nicht einen Tag, mit seinem Mittagessen fertig werden kann … ich meine, wenn man es im Magen hat?…« Und er gab einige widerliche Einzelheiten seines Befindens zum besten, die Christian Buddenbrook mit schauerlichem Interesse und kraus gezogener Nase anhörte und mit einer kleinen eindringlichen Beschreibung seiner »Qual« beantwortete.
 
Der Regen hatte sich wieder verstärkt. Dicht und senkrecht ging er hernieder, und sein Rauschen erfüllte unabänderlich, öde und hoffnungslos die Stille des Kurgartens.
 
»Ja, das Leben ist faul«, sagte Senator Gieseke, der sehr viel getrunken hatte.
 
»Ich mag gar nicht mehr auf der Welt sein«, sagte Christian.
 
»Laß fahren dahin!« sagte Herr Gosch.
 
»Da kommt Fiken Dahlbeck«, sagte Senator Gieseke.
 
Dies war die Besitzerin des Kuhstalles, die mit einem Milcheimer vorüberging und den Herren zulächelte. Sie war an die vierzig, korpulent und frech.
 
Senator Gieseke sah sie mit verwilderten Augen an.
 
»Was für ein Busen!« sagte er; und hieran knüpfte Konsul Döhlmann einen übermäßig unflätigen Witz, der nur bewirkte, daß die Herren wieder kurz und wegwerfend durch die Nase lachten.
 
Dann ward der aufwartende Kellner herangerufen.
 
»Ich bin mit der Flasche fertig geworden, Schröder«, sagte Döhlmann. »Wir können auch ebensogut mal bezahlen. Einmal muß es ja sein … Und Sie, Christian? Na, für Sie zahlt wohl Gieseke.«
 
Hier aber belebte sich Senator Buddenbrook. Er hatte, in seinen Kragenmantel gehüllt, die Hände im Schoße und die Zigarette im Mundwinkel, fast ohne Teilnahme dagesessen; plötzlich aber richtete er sich auf und sagte scharf: »Hast du kein Geld bei dir, Christian? Dann erlaubst du, daß ich die Kleinigkeit auslege.«
 
Man spannte die Regenschirme auf und trat unter dem Zeltdach hervor, um ein bißchen zu promenieren …
 
– Hie und da besuchte Frau Permaneder ihren Bruder. Dann gingen die beiden zum »Mövenstein« oder zum »Seetempel« spazieren, wobei Tony Buddenbrook aus unbekannten Gründen jedesmal in eine begeisterte und unbestimmt aufrührerische Stimmung geriet. Sie betonte wiederholt die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, verwarf kurzerhand jede Rangordnung der Stände, ließ harte Worte gegen Privilegien und Willkür fallen und verlangte ausdrücklich, daß dem Verdienste seine Krone werde. Und dann kam sie auf ihr Leben zu sprechen. Sie sprach gut, sie unterhielt ihren Bruder aufs beste. Dieses glückliche Geschöpf hatte, solange sie auf Erden wandelte, nichts, nicht das geringste hinunterzuschlucken und stumm zu verwinden gebraucht. Auf keine Schmeichelei und keine Beleidigung, die ihr das Leben gesagt, hatte sie geschwiegen. Alles, jedes Glück und jeden Kummer, hatte sie in einer Flut von banalen und kindisch wichtigen Worten, die ihrem Mitteilungsbedürfnis vollkommen genügten, wieder von sich gegeben. Ihr Magen war nicht ganz gesund, aber ihr Herz war leicht und frei – sie wußte selbst nicht, wie sehr. Nichts Unausgesprochenes zehrte an ihr; kein stummes Erlebnis belastete sie. Und darum hatte sie auch gar nichts an ihrer Vergangenheit zu tragen. Sie wußte, daß sie bewegte und arge Schicksale gehabt, aber all das hatte ihr keinerlei Schwere und Müdigkeit hinterlassen, und im Grunde glaubte sie gar nicht daran. Allein, da es allseitig anerkannte Tatsache schien, so nutzte sie es aus, indem sie damit prahlte und mit gewaltig ernsthafter Miene darüber redete … Sie geriet ins Schelten, sie rief voll ehrlicher Entrüstung die Personen bei Namen, die ihr Leben – und folglich das der Familie Buddenbrook – schädlich beeinflußt hatten und deren Zahl mit der Zeit recht stattlich geworden war. »Tränen-Trieschke!« rief sie. »Grünlich! Permaneder! Tiburtius! Weinschenk! Hagenströms! Der Staatsanwalt! Die Severin! Was für Filous, Thomas, Gott wird sie strafen dereinst, den Glauben bewahre ich mir!«
 
Als sie hinauf zum »Seetempel« kamen, brach schon die Dämmerung herein; der Herbst war vorgeschritten. Sie standen in einer der nach der Bucht zu sich öffnenden Kammern, in denen es nach Holz roch, wie in den Kabinen der Badeanstalt, und deren roh gezimmerte Wände mit Inschriften, Initialen, Herzen, Versen bedeckt waren. Nebeneinander blickten sie über den feuchtgrünen Abhang und den schmalen, steinigen Strandstreifen hinweg auf die trübbewegte See hinaus.
 
»Breite Wellen …«, sagte Thomas Buddenbrook. »Wie sie daherkommen und zerschellen, daherkommen und zerschellen, eine nach der anderen, endlos, zwecklos, öde und irr. Und doch wirkt es beruhigend und tröstlich, wie das Einfache und Notwendige. Mehr und mehr habe ich die See lieben gelernt … vielleicht zog ich ehemals das Gebirge nur vor, weil es in weiterer Ferne lag. Jetzt möchte ich nicht mehr dorthin. Ich glaube, daß ich mich fürchten und schämen würde. Es ist zu willkürlich, zu unregelmäßig, zu vielfach … sicher, ich würde mich allzu unterlegen fühlen. Was für Menschen es wohl sind, die der Monotonie des Meeres den Vorzug geben? Mir scheint, es sind solche, die zu lange und tief in die Verwicklungen der innerlichen Dinge hineingesehen haben, um nicht wenigstens von den äußeren vor allem eins verlangen zu müssen: Einfachheit … Es ist das wenigste, daß man tapfer umhersteigt im Gebirge, während man am Meere still im Sande ruht. Aber ich kenne den Blick, mit dem man dem einen, und jenen, mit dem man dem andern huldigt. Sichere, trotzige, glückliche Augen, die voll sind von Unternehmungslust, Festigkeit und Lebensmut, schweifen von Gipfel zu Gipfel; aber auf der Weite des Meeres, das mit diesem mystischen und lähmenden Fatalismus seine Wogen heranwälzt, träumt ein verschleierter, hoffnungsloser und wissender Blick, der irgendwo einstmals tief in traurige Wirrnisse sah … Gesundheit und Krankheit, das ist der Unterschied. Man klettert keck in die wundervolle Vielfachheit der zackigen, ragenden, zerklüfteten Erscheinungen hinein, um seine Lebenskraft zu erproben, von der noch nichts verausgabt wurde. Aber man ruht an der weiten Einfachheit der äußeren Dinge, müde wie man ist von der Wirrnis der inneren.«
 
Frau Permaneder verstummte so eingeschüchtert und unangenehm berührt, wie harmlose Leute verstummen, wenn in Gesellschaft plötzlich etwas Gutes und Ernstes ausgesprochen wird. Dergleichen sagt man doch nicht! dachte sie, indem sie fest ins Weite sah, um seinen Augen nicht zu begegnen. Und um ihm in der Stille abzubitten, daß sie sich für ihn schämte, zog sie seinen Arm in den ihrigen. 

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