Durch die offene Tür sah man im Sterbezimmer Frau Permaneder im Gebete liegen. Sie befand sich allein und kniete, ihre Trauergewänder um sich her auf dem Boden ausgebreitet, in der Nähe des Bettes, an einem Stuhle, indem sie die fest gefalteten Hände auf dem Sitze ruhen ließ und gebeugten Hauptes murmelte … Sie hörte sehr wohl, daß ihr Bruder und ihre Schwägerin das Frühstückszimmer betraten, in dessen Mitte sie unwillkürlich stehen blieben, um das Ende der Andacht zu erwarten; aber sie beeilte sich deswegen nicht sonderlich, ließ zum Schlusse ihr trockenes Räuspern ertönen, nahm mit langsamer Feierlichkeit ihr Kleid zusammen, erhob sich und ging ihren Verwandten ohne eine Spur von Verwirrung in vollkommen würdiger Haltung entgegen.
»Thomas«, sagte sie nicht ohne Härte, »was die Severin betrifft, so scheint es mir, daß die selige Mutter eine Natter an ihrem Busen genährt hat.«
»Wieso?«
»Ich bin voll Ärger über sie. Man könnte die Fassung verlieren und sich vergessen … Hat dies Weib ein Recht, einem den Schmerz dieser Tage in so ordinärer Weise zu vergällen?«
»Aber was ist es denn?«
»Erstens einmal ist sie von einer empörenden Habsucht. Sie geht an den Schrank, nimmt Mutters seidene Kleider heraus, packt sie über den Arm und will sich zurückziehen. ›Riekchen‹, sage ich, ›wohin damit?‹ – ›Das hat Frau Konsul mir versprochen!‹ – ›Liebe Severin!‹ sage ich und gebe ihr in aller Zurückhaltung das Voreilige ihrer Handlungsweise zu bedenken. Meinst du, daß es etwas nützt? Sie nimmt nicht nur die seidenen Kleider, sie nimmt auch noch ein Paket Wäsche und geht. Ich kann mich doch nicht mit ihr prügeln, nicht wahr?… Und nicht sie allein … auch die Mädchen … Waschkörbe voll Kleider und Leinenzeug werden aus dem Hause geschafft … Das Personal teilt sich unter meinen Augen in die Sachen, denn die Severin hat die Schlüssel zu den Schränken. ›Fräulein Severin!‹ sage ich, ›ich wünsche die Schlüssel.‹ Was antwortet sie mir? Sie erklärt mir mit deutlichen und gewöhnlichen Worten, ich hätte ihr nichts zu sagen, sie stände nicht bei mir in Dienst, ich hätte sie nicht engagiert, sie werde die Schlüssel behalten, bis sie gehe!«
»Hast du die Schlüssel zum Silberzeug? – Gut. Laß dem übrigen seinen Lauf. Dergleichen ist unvermeidlich, wenn ein Haushalt aufgelöst wird, in dem zuletzt sowieso schon ein bißchen lax regiert wurde. Ich will jetzt keinen Lärm machen. Das Weißzeug ist alt und defekt … Übrigens werden wir ja sehen, was noch da ist. Hast du die Verzeichnisse? Auf dem Tische? Gut. Wir werden ja gleich sehen.«
Und sie traten in das Schlafzimmer, um ein Weilchen still nebeneinander an dem Bette stehenzubleiben, nachdem Frau Antonie das weiße Tuch vom Gesicht der Toten genommen hatte. Die Konsulin war schon in dem seidenen Gewand, in welchem sie heute nachmittag im Saale droben aufgebahrt werden sollte; es war achtundzwanzig Stunden nach ihrem letzten Atemzuge. Mund und Wangen waren, da die künstlichen Zähne fehlten, greisenhaft eingefallen, und das Kinn schob sich schroff und eckig aufwärts. Alle drei bemühten sich schmerzlich, während sie auf diese unerbittlich tief und fest geschlossenen Augenlider blickten, in diesem Antlitz das ihrer Mutter wiederzuerkennen. Aber unter der Haube, die die alte Dame Sonntags getragen, saß wie im Leben das rötlichbraune, glattgescheitelte Toupet, über das die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße sich sooft lustig gemacht hatten … Blumen lagen verstreut auf der Steppdecke.
»Es sind schon die prachtvollsten Kränze gekommen«, sagte Frau Permaneder leise. »Von allen Familien … ach, einfach von aller Welt! Ich habe alles auf den Korridor hinaufschaffen lassen; ihr müßt es euch später ansehen, Gerda und Tom. Es ist traurigschön. Atlasschleifen von dieser Größe …«
»Wie weit ist es mit dem Saal?« fragte der Senator.
»Bald fertig, Tom. Fast bereit. Tapezierer Jacobs hat sich alle Mühe gegeben. Auch der …«, und sie schluckte einen Augenblick … »auch der Sarg ist vorhin gekommen. Aber ihr müßt nun ablegen, ihr Lieben«, fuhr sie fort und zog behutsam das weiße Tuch an seinen Platz zurück. »Hier ist es kalt, aber im Frühstückszimmer ist ein bißchen geheizt … Laß dir helfen, Gerda; mit einem so prachtvollen Umhang muß man vorsichtig umgehen … Darf ich dir einen Kuß geben? Du weißt, ich liebe dich, wenn du mich auch immer verabscheut hast … Nein, ich verderbe dir nicht die Frisur, wenn ich dir den Hut abnehme … Dein schönes Haar! Solches Haar hat Mutter auch in ihrer Jugend gehabt. Sie war ja niemals so herrlich wie du, aber es hat doch eine Zeit gegeben, und ich war schon auf der Welt, wo sie eine wirklich schöne Erscheinung gewesen ist. Und nun … Ist es nicht wahr, was euer Grobleben immer sagt: Wir müssen alle zu Moder werden –? Ein so einfacher Mann er ist … Ja, Tom, das sind die hauptsächlichsten Verzeichnisse.«
Sie waren ins Nebenzimmer zurückgekehrt und setzten sich an den runden Tisch, während der Senator die Papiere zur Hand nahm, auf welchen die Gegenstände verzeichnet standen, die unter die nächsten Erben verteilt werden sollten … Frau Permaneder ließ das Gesicht ihres Bruders nicht aus den Augen, sie beobachtete es mit erregtem und gespanntem Ausdruck. Es gab etwas, eine schwere unabwendbare Frage, auf die ihr ganzes Denken ängstlich gerichtet war, und die in der nächsten Stunde zur Sprache kommen mußte …
»Ich denke«, fing der Senator an, »wir halten den üblichen Grundsatz fest, daß Geschenke zurückgehen, so daß also …«
Seine Frau unterbrach ihn.
»Verzeih, Thomas, mir scheint … Christian … wo ist er denn?«
»Ja, mein Gott, Christian!« rief Frau Permaneder. »Wir vergessen ihn ja!«
»Richtig«, sagte der Senator und ließ die Papiere sinken. »Wird er denn nicht gerufen?«
Und Frau Permaneder ging zum Glockenzug. Aber in demselben Augenblick öffnete schon Christian selbst die Tür und trat ein. Er kam ziemlich rasch ins Zimmer, schloß die Tür nicht ganz geräuschlos und blieb mit zusammengezogenen Brauen stehen, indem er seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen ohne jemanden anzublicken von einer Seite zur anderen wandern ließ und seinen Mund unter dem buschigen, rötlichen Schnurrbart in unruhiger Bewegung öffnete und schloß … Er schien sich in einer Art trotziger und gereizter Stimmung zu befinden.
»Ich höre, daß ihr da seid«, sagte er kurz. »Wenn über die Sachen gesprochen werden soll, so muß ich doch benachrichtigt werden.«
»Wir waren im Begriffe«, antwortete der Senator gleichgültig. »Nimm nur Platz.«
Dabei aber blieben seine Augen auf den weißen Knöpfen haften, mit denen Christians Hemd geschlossen war. Er selbst war in tadelloser Trauerkleidung, und auf seinem Hemdeinsatz, welcher, am Kragen von der breiten, schwarzen Schleife abgeschlossen, blendend weiß aus der Umrahmung des schwarzen Tuchrockes hervortrat, saßen statt der goldenen, die er zu tragen pflegte, schwarze Knöpfe. Christian bemerkte den Blick, denn während er einen Stuhl herbeizog und sich setzte, berührte er mit der Hand seine Brust und sagte: »Ich weiß, daß ich weiße Knöpfe trage. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir schwarze zu kaufen, oder vielmehr, ich habe es unterlassen. Ich habe mir in den letzten Jahren oft fünf Schillinge für Zahnpulver leihen und mit einem Streichholz zu Bette gehen müssen … ich weiß nicht, ob ich so ausschließlich schuld daran bin. Übrigens sind schwarze Knöpfe in der Welt ja nicht die Hauptsache. Ich liebe die Äußerlichkeiten nicht. Ich habe nie Wert darauf gelegt.«
Gerda betrachtete ihn, während er sprach, und lachte nun leise. Der Senator bemerkte: »Die letzte Behauptung kannst du wohl auf die Dauer nicht vertreten, mein Lieber.«
»So? Vielleicht weißt du es besser, Thomas. Ich sage nur dies, daß ich auf solche Sachen kein Gewicht lege. Ich habe zuviel von der Welt gesehen, habe unter zu verschiedenen Menschen mit zu verschiedenen Sitten gelebt, als daß ich … Übrigens bin ich ein erwachsener Mensch«, sagte er plötzlich laut, »ich bin dreiundvierzig Jahre alt, ich bin mein eigener Herr und darf jedem verwehren, sich in meine Angelegenheiten zu mischen.«
»Mir scheint, du hast etwas auf dem Herzen, mein Freund«, sagte der Senator erstaunt. »Was die Knöpfe betrifft, so habe ich ja, wenn mich nicht alles täuscht, noch kein Wort darüber verloren. Regle deine Trauertoilette ganz nach Geschmack; nur glaube nicht, daß du mit deiner billigen Vorurteilslosigkeit Eindruck auf mich machst …«
»Ich will gar keinen Eindruck auf dich machen …«
»Tom … Christian …«, sagte Frau Permaneder. »Wir wollen doch keinen gereizten Ton anschlagen … heute … und hier, wo nebenan … Fahr' fort, Thomas. Geschenke gehen also zurück? Das ist nicht mehr als billig.«
Und Thomas fuhr fort. Er fing mit den größeren Gegenständen an und schrieb sich diejenigen zu, die er für sein Haus gebrauchen konnte: die Kandelaber des Eßsaales, die große geschnitzte Truhe, die auf der Diele stand. Frau Permaneder war mit außerordentlichem Eifer bei der Sache und hatte, sobald der künftige Besitzer irgendeines Dinges nur ein wenig zweifelhaft war, eine unvergleichliche Art zu sagen: »Nun, ich bin bereit, es zu übernehmen« … mit einer Miene, als verpflichte sie sich mit ihrer Opferwilligkeit die ganze Welt zu Danke. Sie erhielt für sich, ihre Tochter und ihre Enkelin weitaus den größten Teil des Ameublements.
Christian hatte einige Möbelstücke, eine Empire-Stutzuhr und sogar das Harmonium bekommen, und er zeigte sich zufrieden damit. Als aber die Verteilung sich dem Silber- und Weißzeug, sowie dem verschiedenen Speiseservice zuwandte, begann er zu dem Erstaunen aller einen Eifer merken zu lassen, der sich fast wie Habsucht ausnahm.
»Und ich? Und ich?« fragte er … »Ich bitte doch, mich nicht ganz und gar zu vergessen …«
»Wer vergißt dich denn? Ich habe dir ja … sieh doch her, ich habe dir ja schon ein ganzes Teeservice mit silbernem Tablett zugeschrieben. Für das Sonntagsservice mit der Vergoldung haben doch wohl nur wir Verwendung, und …«
»Das alltägliche mit Zwiebelmuster bin ich bereit zu übernehmen«, sagte Frau Permaneder.
»Und ich?!« rief Christian mit jener Entrüstung, die ihn zuweilen befallen konnte, seine Wangen noch hagerer erscheinen ließ und ihm so seltsam zu Gesichte stand … »Ich möchte doch an dem Eßgeschirr beteiligt werden! Wie viele Löffeln und Gabeln bekomme ich denn? Ich sehe, ich bekomme beinahe nichts!…«
»Aber Bester, was willst du denn mit den Sachen anfangen! Du wirst ja gar keine Verwendung dafür haben! Ich begreife nicht … Es ist doch besser, solche Dinge bleiben im Familiengebrauch …«
»Und wenn es auch nur als Andenken an Mutter wäre«, sagte Christian trotzig.
»Lieber Freund«, erwiderte der Senator ziemlich ungeduldig … »ich bin nicht aufgelegt, zu scherzen … aber deinen Worten nach zu urteilen, scheint es, als wolltest du dir als Andenken an Mutter eine Suppenterrine auf die Kommode stellen? Ich bitte, doch nicht anzunehmen, daß wir dich übervorteilen wollen. Was du an Effekten weniger erhältst, wird dir natürlich demnächst in anderer Form ersetzt werden. Es ist mit dem Weißzeug ebenso …«
»Ich wünsche kein Geld, ich wünsche Wäsche und Eßgeschirr.«
»Aber wozu denn, um alles in der Welt?«
Jetzt aber gab Christian eine Antwort, die bewirkte, daß Gerda Buddenbrook sich ihm eilig zuwandte und ihn mit einem rätselhaften Ausdruck in ihren Augen musterte, der Senator sehr rasch das Pincenez von der Nase nahm und ihm starr ins Gesicht blickte, und Frau Permaneder sogar die Hände faltete. Er sagte nämlich: »Na, mit einem Worte, ich denke, mich über kurz oder lang zu verheiraten.«
Er tat diesen Ausspruch ziemlich leise und schnell, mit einer kurzen Handbewegung, als würfe er seinem Bruder über den Tisch hin etwas zu, worauf er sich zurücklehnte und mit einer mürrischen, gleichsam beleidigten und merkwürdig zerstreuten Miene seine Augen haltlos umherschweifen ließ. Eine längere Pause trat ein. Endlich sagte der Senator: »Man muß gestehen, Christian, diese Pläne kommen etwas spät … gesetzt natürlich, daß es reelle und ausführbare Pläne sind, nicht von der Art derer, die du aus Unüberlegtheit früher schon einmal der seligen Mutter vorgelegt hast …«
»Meine Absichten sind dieselben geblieben«, sagte Christian, immer ohne jemanden anzusehen und immer mit dem gleichen Gesichtsausdruck.
»Das ist doch wohl unmöglich. Du hättest Mutters Tod abgewartet, um …«
»Ich habe diese Rücksicht genommen, ja. Du scheinst der Ansicht zuzuneigen, Thomas, daß du allein alles Takt- und Feingefühl der Welt in Pacht hast …«
»Ich weiß nicht, was dich zu dieser Redensart berechtigt. Übrigens muß ich den Umfang deiner Rücksichtnahme bewundern. Am Tage nach Mutters Tode machst du Miene, den Ungehorsam gegen sie zu proklamieren …«
»Weil das Gespräch darauf kam. Und dann ist die Hauptsache die, daß Mutter sich über meinen Schritt nicht mehr alterieren kann. Das kann sie heute so wenig wie in einem Jahre … Herr Gott, Thomas, Mutter hatte doch nicht unbedingt recht, sondern nur von ihrem Standpunkt aus, auf den ich Rücksicht genommen habe, solange sie lebte. Sie war eine alte Frau, eine Frau aus einer anderen Zeit, mit einer anderen Anschauungsweise …«
»Nun, so bemerke ich dir, daß diese Anschauungsweise in dem Punkte, der hier in Frage kommt, durchaus auch die meine ist.«
»Darum kann ich mich nicht kümmern.«
»Du wirst dich darum kümmern, mein Freund.«
Christian sah ihn an.
»Nein –!« rief er. »Ich kann es nicht! Wenn ich dir sage, daß ich es nicht kann?!… Ich muß wissen, was ich zu tun habe. Ich bin ein erwachsener Mensch …«
»Ach, das mit dem ›erwachsenen Menschen‹ ist etwas sehr Äußerliches bei dir! Du weißt durchaus nicht, was du zu tun hast …«
»Doch!… Ich handle erstens als Ehrenmann … Du bedenkst ja nicht, wie die Sache liegt, Thomas! Hier sitzen Tony und Gerda … wir können nicht ausführlich darüber reden. Aber ich habe dir doch gesagt, daß ich Verpflichtungen habe! Das letzte Kind, die kleine Gisela …«
»Ich weiß von keiner kleinen Gisela und will von keiner wissen! Ich bin überzeugt, daß man dich belügt. Jedenfalls aber hast du einer Person gegenüber, wie der, die du im Sinne hast, keine andere Verpflichtung als die gesetzliche, die du wie bisher weitererfüllen magst …«
»Person, Thomas? Person? Du täuschst dich über sie! Aline …«
»Schweig!« rief Senator Buddenbrook mit Donnerstimme. Die beiden Brüder starrten einander jetzt über den Tisch hinweg ins Gesicht, Thomas blaß und zitternd vor Zorn, Christian, indem er seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen, deren Lider sich plötzlich entzündet hatten, gewaltsam aufriß und auch seinen Mund in Entrüstung geöffnet hielt, so daß seine hageren Wangen ganz ausgehöhlt erschienen. Ein Stückchen unter den Augen zeigten sich ein paar rote Flecken … Gerda blickte mit ziemlich spöttischer Miene von einem zum anderen, und Tony rang die Hände und sagte flehend: »Aber Tom … Aber Christian … Und Mutter liegt nebenan!«
»Du bist so sehr jeden Schamgefühles bar«, fuhr der Senator fort, »daß du es über dich gewinnst … nein, daß es dich gar keine Überwindung kostet, an dieser Stelle und unter diesen Umständen diesen Namen zu nennen! Dein Mangel an Takt ist abnorm, er ist krankhaft …«
»Ich begreife nicht, warum ich Alines Namen nicht nennen soll!« Christian war so außerordentlich erregt, daß Gerda ihn mit wachsender Aufmerksamkeit betrachtete. »Ich nenne ihn gerade, wie du hörst, Thomas, ich gedenke, sie zu heiraten – denn ich sehne mich nach einem Heim, nach Ruhe und Frieden – und ich verbitte mir, hörst du, das ist das Wort, das ich gebrauche, ich verbitte mir jede Einmischung von deiner Seite! Ich bin frei, ich bin mein eigener Herr …«
»Ein Narr bist du! Der Tag der Testamentseröffnung wird dich lehren, wie weit du dein eigener Herr bist! Es ist dafür gesorgt, verstehst du mich, daß du nicht Mutters Erbe verlotterst, wie du bereits dreißigtausend Kurantmark im voraus verlottert hast. Ich werde den Rest deines Vermögens verwalten, und du wirst nie mehr als ein Monatsgeld in die Hände bekommen, das schwöre ich dir …«
»Nun, du selbst wirst wohl am besten wissen, wer Mutter zu dieser Maßregel veranlaßt hat. Aber wundern muß ich mich doch, daß Mutter mit dem Amte nicht jemanden betraut hat, der mir nähersteht und mir brüderlicher zugetan ist als du …« Christian war nun ganz und gar außer sich; er fing an, Dinge zu sagen, wie er sie noch niemals hatte laut werden lassen. Er hatte sich über den Tisch gebeugt, pochte unaufhörlich mit der Spitze des gekrümmten Zeigefingers auf die Platte und starrte mit gesträubtem Schnurrbart und geröteten Augen zu seinem Bruder empor, der seinerseits aufrecht, bleich und mit halb gesenkten Lidern auf ihn hinabblickte.
»Dein Herz ist so voll von Kälte und Übelwollen und Mißachtung gegen mich«, fuhr Christian fort, und seine Stimme war zugleich hohl und krächzend … »Solange ich denken kann, hast du eine solche Kälte auf mich ausströmen lassen, daß mich in deiner Gegenwart beständig gefroren hat … ja, das mag ein sonderbarer Ausdruck sein, aber wenn ich es doch so empfinde?… Du weisest mich ab … Du weisest mich ab, wenn du mich nur ansiehst, und auch das tust du beinahe nie. Und was gibt dir das Recht dazu? Du bist doch auch ein Mensch und hast deine Schwächen! Du bist unseren Eltern immer der bessere Sohn gewesen, aber wenn du ihnen wirklich so viel näherstehst als ich, so solltest du dir doch auch ein wenig von ihrer christlichen Denkungsart aneignen, und wenn dir schon alle geschwisterliche Liebe fremd ist, so sollte man doch eine Spur von christlicher Liebe von dir erwarten dürfen. Aber du bist so lieblos, daß du mich nicht einmal besucht … nicht ein einziges Mal im Krankenhause besucht hast, als ich in Hamburg mit Gelenkrheumatismus daniederlag …«
»Ich habe Ernsteres zu bedenken als deine Krankheiten. Übrigens ist meine eigene Gesundheit …«
»Nein, Thomas, deine Gesundheit ist prächtig! Du säßest hier nicht als der, der du bist, wenn sie nicht im Verhältnis zu meiner ganz ausgezeichnet wäre …«
»Ich bin vielleicht kränker als du.«
»Du wärest … Nein, das ist stark! Tony! Gerda! Er sagt, er sei kränker als ich! Was! Hast du vielleicht in Hamburg mit Gelenkrheumatismus auf dem Tode gelegen?! Hast du nach jeder kleinsten Unregelmäßigkeit eine Qual in deinem Körper auszuhalten, die ganz unbeschreiblich ist?! Sind vielleicht an deiner linken Seite alle Nerven zu kurz?! Autoritäten haben mich versichert, daß es bei mir der Fall ist! Passieren dir vielleicht solche Dinge, daß, wenn du in der Dämmerung in dein Zimmer kommst, du auf deinem Sofa einen Mann sitzen siehst, der dir zunickt und dabei überhaupt gar nicht vorhanden ist?!…«
»Christian!« stieß Frau Permaneder entsetzt hervor. »Was sprichst du!… Mein Gott, worüber streitet ihr euch eigentlich? Ihr tut, als sei es eine Ehre, der Kränkere zu sein! Wenn es darauf ankäme, so hätten leider Gerda und ich auch noch ein Wörtchen mitzureden!… Und Mutter liegt nebenan …!«
»Und du begreifst nicht, Mensch«, rief Thomas Buddenbrook leidenschaftlich, »daß alle diese Widrigkeiten Folgen und Ausgeburten deiner Laster sind, deines Nichtstuns, deiner Selbstbeobachtung?! Arbeite! Höre auf, deine Zustände zu hegen und zu pflegen und darüber zu reden!… Wenn du verrückt wirst – und ich sage dir ausdrücklich, daß das nicht unmöglich ist – ich werde nicht imstande sein, eine Träne darüber zu vergießen, denn es wird deine Schuld sein, deine allein …«
»Nein, du wirst auch keine Träne vergießen, wenn ich sterbe.«
»Du stirbst ja nicht«, sagte der Senator verächtlich.
»Ich sterbe nicht? Gut, ich sterbe also nicht! Wir werden ja sehen, wer von uns beiden früher stirbt!… Arbeite! Wenn ich aber nicht kann? Wenn ich es nun aber auf die Dauer nicht kann, Herr Gott im Himmel?! Ich kann nicht lange Zeit dasselbe tun, ich werde elend davon! Wenn du es gekonnt hast und kannst, so freue dich doch, aber sitze nicht zu Gericht, denn ein Verdienst ist nicht dabei … Gott gibt dem einen Kraft und dem anderen nicht … Aber so bist du, Thomas«, fuhr er fort, indem er sich mit immer verzerrterem Gesicht über den Tisch beugte und immer heftiger auf die Platte pochte … »Du bist selbstgerecht … ach, warte nur, das ist es nicht, was ich sagen wollte und was ich gegen dich vorzubringen habe … Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und das, was ich werde sagen können, ist nur der tausendste … ach, es ist nur der millionste Teil von dem, was ich gegen dich auf dem Herzen habe! Du hast dir einen Platz im Leben erobert, eine geehrte Stellung, und da stehst du nun und weisest kalt und mit Bewußtsein alles zurück, was dich einen Augenblick beirren und dein Gleichgewicht stören könnte, denn das Gleichgewicht, das ist dir das Wichtigste. Aber es ist nicht das Wichtigste, Thomas, es ist vor Gott nicht die Hauptsache! Du bist ein Egoist, ja, das bist du! Ich liebe dich noch, wenn du schiltst und auftrittst und einen niederdonnerst. Aber am schlimmsten ist dein Schweigen, am schlimmsten ist es, wenn du auf etwas, was man gesagt hat, plötzlich verstummst und dich zurückziehst und jede Verantwortung ablehnst, vornehm und intakt, und den anderen hilflos seiner Beschämung überläßt … Du bist so ohne Mitleid und Liebe und Demut … Ach!« rief er plötzlich, indem er beide Hände hinter seinen Kopf bewegte und sie dann weit vorwärts stieß, als wehrte er die ganze Welt von sich ab … »Wie satt ich das alles habe, dies Taktgefühl und Feingefühl und Gleichgewicht, diese Haltung und Würde … wie sterbenssatt!…« Und dieser letzte Ruf war in einem solchen Grade echt, er kam so sehr von Herzen und brach mit einem solchen Nachdruck von Widerwillen und Überdruß hervor, daß er tatsächlich etwas Niederschmetterndes hatte, ja, daß Thomas ein wenig zusammensank und eine Weile wortlos und mit müder Miene vor sich niederblickte.
»Ich bin geworden wie ich bin«, sagte er endlich, und seine Stimme klang bewegt, »weil ich nicht werden wollte wie du. Wenn ich dich innerlich gemieden habe, so geschah es, weil ich mich vor dir hüten muß, weil dein Sein und Wesen eine Gefahr für mich ist … ich spreche die Wahrheit.«
Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann in kürzerem und befestigtem Tone fort: »Übrigens haben wir uns weit von unserem Gegenstande entfernt. Du hast mir eine Rede über meinen Charakter gehalten … eine etwas verworrene Rede, die vielleicht einen Kern von Wahrheit enthielt. Aber es handelt sich jetzt nicht um mich, sondern um dich. Du trägst dich mit Heiratsgedanken, und ich möchte dich möglichst gründlich davon überzeugen, daß die Ausführung in der Weise, wie du sie planst, unmöglich ist. Erstens werden die Zinsen, die ich dir werde auszahlen können, von keiner sehr ermutigenden Höhe sein …«
»Aline hat manches zurückgelegt.«
Der Senator schluckte hinunter und bezwang sich.
»Hm … zurückgelegt. Du gedenkst also Mutters Erbe mit den Ersparnissen dieser Dame zu vermischen …«
»Ja. Ich sehne mich nach einem Heim und nach jemandem, der Mitleid mit mir hat, wenn ich krank bin. Übrigens passen wir ganz gut zusammen. Wir sind beide ein bißchen verfahren …«
»Du gedenkst ferner, die vorhandenen Kinder zu adoptieren, beziehungsweise zu … legitimieren?«
»Jawohl.«
»So daß also dein Vermögen nach deinem Tode an jene Leute überginge?« – Als der Senator dies sagte, legte Frau Permaneder ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte beschwörend: »Thomas!… Mutter liegt nebenan!…«
»Ja«, antwortete Christian, »das gehört sich doch so.«
»Nun, du wirst das alles nicht tun!« rief der Senator und sprang auf. Auch Christian erhob sich, trat hinter seinen Stuhl, erfaßte ihn mit einer Hand, drückte das Kinn auf die Brust und sah seinen Bruder halb scheu und halb entrüstet an.
»Du wirst es nicht tun …«, wiederholte Thomas Buddenbrook beinahe sinnlos vor Zorn, blaß, bebend und mit zuckenden Bewegungen. »Solange ich über der Erde bin, geschieht dies nicht … ich schwöre es dir!… Hüte dich … nimm dich in acht …! Es ist genug Geld durch Unglück, Torheit und Niedertracht verloren gegangen, als daß du dich unterstehen dürftest, ein Viertel von Mutters Vermögen diesem Frauenzimmer und ihren Bastarden in den Schoß zu werfen!… Und das, nachdem schon ein anderes Viertel von Tiburtius erschlichen worden!… Du hast der Familie genug der Blamage zugefügt, Mensch, als daß es noch nötig wäre, uns mit einer Kurtisane zu verschwägern und ihren Kindern unseren Namen zu geben. Ich verbiete es dir, hörst du? ich verbiete es dir!« rief er mit einer Stimme, daß das Zimmer erdröhnte und Frau Permaneder sich weinend in einen Winkel des Sofas drückte. »Und wage es nicht, gegen dies Verbot zu handeln, das rate ich dir! Ich habe dich bis jetzt bloß verachtet, ich habe über dich hinweggesehen … aber forderst du mich heraus, läßt du es zum Äußersten kommen, so werden wir sehen, wer den kürzeren zieht! Ich sage dir, hüte dich! Ich kenne keine Rücksicht mehr! Ich lasse dich für kindisch erklären, ich lasse dich einsperren, ich mache dich zunichte! Zunichte! Verstehst du mich?!…«
»Und ich sage dir …«, fing Christian an … Und nun ging das Ganze in einen Wortstreit über, einen abgerissenen, nichtigen, beklagenswerten Wortstreit ohne ein eigentliches Thema, ohne einen anderen Zweck als den, zu beleidigen, einander mit Worten bis aufs Blut zu verwunden. Christian kam auf den Charakter seines Bruders zurück und suchte aus alter Vergangenheit einzelne Züge, peinliche Anekdoten hervor, die Thomas' Egoismus belegen sollten und die Christian nicht hatte vergessen können, sondern mit sich umhergetragen und mit Bitterkeit durchtränkt hatte. Und der Senator antwortete ihm in übertriebenen Worten der Verachtung und der Drohung, die er zehn Minuten später bereute. Gerda hatte das Haupt leicht in die Hand gestützt und beobachtete die beiden mit verschleierten Augen und einem nicht bestimmbaren Gesichtsausdruck. Frau Permaneder wiederholte beständig in Verzweiflung: »Und Mutter liegt nebenan … Und Mutter liegt nebenan …«
Christian, der sich schon während der letzten Repliken im Zimmer hin und her bewegt hatte, räumte endlich den Kampfplatz.
»Es ist gut! Wir werden ja sehen!« rief er, und mit verwildertem Schnurrbart und roten Augen, den Rock offen, das Taschentuch in der herabhängenden Hand, hitzig und exaltiert, ging er zur Tür und ließ sie hinter sich ins Schloß fallen.
In der plötzlichen Stille stand der Senator noch einen Augenblick aufrecht und sah dorthin, wo sein Bruder verschwunden war. Dann setzte er sich schweigend, nahm mit kurzen Bewegungen die Papiere wieder zur Hand und erledigte mit trockenen Worten, was noch zu erledigen war, worauf er sich zurücklehnte, die Spitzen seines Bartes durch die Finger gleiten ließ und in Gedanken versank.
Frau Permaneders Herz pochte so voller Angst! Die Frage, die große Frage war nun nicht länger hinauszuschieben; sie mußte zur Sprache kommen, er mußte sie beantworten … aber ach, war er jetzt in der Stimmung, Pietät und Milde walten zu lassen?
»Und … Tom –«, fing sie an, indem sie zuerst in ihren Schoß blickte und dann einen zagen Versuch machte, in seiner Miene zu lesen … »Die Möbel … Du hast natürlich schon alles in Erwägung gezogen … Die Sachen, die uns gehören, ich meine Erika, der Kleinen und mir … sie bleiben hier … mit uns … kurz … das Haus, wie ist es damit?« fragte sie und rang heimlich die Hände.
Der Senator antwortete nicht sogleich, sondern fuhr eine Weile fort, den Schnurrbart zu drehen und mit trüber Nachdenklichkeit in sich hineinzublicken. Dann atmete er auf und richtete sich empor.
»Das Haus?« sagte er … »Es gehört natürlich uns allen, dir, Christian und mir … und komischerweise auch dem Pastor Tiburtius, denn der Anteil gehört zu Klaras Erbe. Ich allein habe nichts darüber zu entscheiden, sondern bedarf eurer Zustimmung. Aber das Gegebene ist selbstverständlich, so bald als möglich zu verkaufen«, schloß er achselzuckend. Dennoch ging etwas dabei über sein Gesicht, als erschräke er über seine eigenen Worte.
Frau Permaneders Kopf sank tief herab; ihre Hände hörten auf, einander zu pressen und erschlafften plötzlich in allen Gliedern.
»Unserer Zustimmung!« wiederholte sie nach einer Pause, traurig und sogar mit einiger Bitterkeit. »Lieber Gott, du weißt gut, Tom, daß du tun wirst, was du für richtig hältst, und daß wir anderen dir unsere Zustimmung nicht lange versagen können!… Aber wenn wir ein Wort einlegen … dich bitten dürfen«, fuhr sie beinahe tonlos fort, und ihre Oberlippe begann zu beben … »Das Haus! Mutters Haus! Unser Elternhaus! In dem wir so glücklich gewesen sind! Wir sollen es verkaufen …!«
Der Senator zuckte wieder die Achseln.
»Du wirst mir glauben, Kind, daß alles, was du mir vorhalten kannst, mich ohnehin so sehr bewegt wie dich … Aber Gegengründe sind das nicht, sondern Sentiments. Was zu tun ist, steht fest. Da haben wir dies große Grundstück … was sollen wir jetzt damit beginnen? Seit langen Jahren, schon seit Vaters Tode, verfällt das ganze Rückgebäude. Im Billardsaal lebt eine freie Katzenfamilie, und tritt man näher, so läuft man Gefahr, durch den Fußboden zu brechen … Ja, hätte ich nicht mein Haus in der Fischergrube! Aber ich habe es, und wohin damit? Soll ich vielleicht lieber das verkaufen? Urteile doch selbst … an wen? Ich würde ungefähr die Hälfte des Geldes verlieren, das ich hineingesteckt. Ach Tony, wir haben Grundstücke genug, wir haben viel zuviel davon! Die Speicher und zwei große Häuser! Der Wert der Grundstücke steht ja kaum noch in einem Verhältnis zu dem beweglichen Kapital! Nein, verkaufen, verkaufen!…«
Aber Frau Permaneder hörte nicht. Niedergebeugt und in sich gekehrt saß sie da und blickte mit feuchten Augen ins Leere.
»Unser Haus!« murmelte sie … »Ich weiß noch, wie wir es einweihten … Wir waren nicht größer als so damals. Die ganze Familie war da. Und onkel Hoffstede trug ein Gedicht vor … Es liegt in der Mappe … Ich weiß es auswendig … Venus Anadyomene … Das Landschaftszimmer! Der Eßsaal! Fremde Leute …!«
»Ja, Tony, so werden damals die auch gedacht haben, die das Haus verlassen mußten, als Großvater es kaufte. Sie hatten ihr Geld verloren und mußten davonziehen und sind gestorben und verdorben. Alles hat seine Zeit. Freuen wir uns und danken wir Gott, daß es mit uns noch nicht so weit ist, wie es damals mit Ratenkamps war, und daß wir noch unter günstigeren Umständen von hier Abschied nehmen als sie …«
Schluchzen, ein langsames, schmerzliches Aufschluchzen unterbrach ihn. Frau Permaneders Hingebung an ihren Kummer war so groß, daß sie nicht einmal daran dachte, die Tränen zu trocknen, die über ihre Wangen rannen. Sie saß vornüber gebeugt und zusammengesunken, und ein warmer Tropfen fiel auf ihre matt im Schoße ruhenden Hände hinab, ohne daß sie dessen achtete.
»Tom«, sagte sie und gewann ihrer Stimme, die die Tränen zu ersticken drohten, eine leise, rührende Festigkeit ab. »Du weißt nicht, wie mir zumute ist in dieser Stunde, du weißt es nicht. Es ist deiner Schwester nicht gut ergangen im Leben, es hat ihr übel mitgespielt. Alles ist auf mich herabgekommen, was sich nur ausdenken ließ … ich weiß nicht, womit ich es verdient habe. Aber ich habe alles hingenommen, ohne zu verzagen, Tom, das mit Grünlich und das mit Permaneder und das mit Weinschenk. Denn immer, wenn Gott mein Leben wieder in Stücke gehen ließ, so war ich doch nicht ganz verloren. Ich wußte einen Ort, einen sicheren Hafen, sozusagen, wo ich zu Hause und geborgen war, wohin ich mich flüchten konnte, vor allem Ungemach des Lebens … Auch jetzt noch, als doch alles zu Ende war, und als sie Weinschenk ins Gefängnis fuhren … ›Mutter‹, sagte ich, ›dürfen wir zu dir ziehen?‹ ›Ja, Kinder, kommt‹ … Als wir klein waren und ›Kriegen‹ spielten, Tom, da gab es immer ein ›Mal‹, ein abgegrenztes Fleckchen, wohin man laufen konnte, wenn man in Not und Bedrängnis war, und wo man nicht abgeschlagen werden durfte, sondern in Frieden ausruhen konnte. Mutters Haus, dies Haus hier war mein ›Mal‹ im Leben, Tom … Und nun … und nun … verkaufen …«
Sie lehnte sich zurück, verbarg ihr Gesicht im Schnupftuch und weinte bitterlich.
Er zog eine ihrer Hände herunter und nahm sie in die seinen.
»Ich weiß es ja, liebe Tony, ich weiß es ja alles! Aber wollen wir nun nicht ein wenig vernünftig sein? Die gute Mutter ist dahin … wir rufen sie nicht zurück. Was nun? Es ist unsinnig geworden, dies Haus als totes Kapital zu behalten … ich muß das wissen, nicht wahr. Sollen wir eine Mietskaserne daraus machen?… Der Gedanke ist dir schwer, daß fremde Leute hier wohnen sollen; aber da ist es doch besser, du siehst es nicht mit an, sondern nimmst dir und den Deinen ein kleines, hübsches Haus oder eine Etage irgendwo vorm Tore zum Beispiel … Oder wäre es dir lieber, hier mit einer Anzahl von Mietsparteien zusammen zu hausen?… Und deine Familie hast du doch immer noch, Gerda und mich und Buddenbrooks in der Breiten Straße und Krögers und auch Mademoiselle Weichbrodt … ohne von Klothilde zu reden, von der ich nicht weiß, ob ihr der Umgang mit uns genehm ist; seit sie Klosterdame geworden, ist sie ein wenig exklusiv …«
Sie stieß einen Seufzer aus, der halb ein Lachen war, wandte sich ab und drückte das Taschentuch fester gegen die Augen, schmollend wie ein Kind, das man mit einem Spaß seinem Leide abwendig zu machen sucht. Dann aber enthüllte sie mit Entschlossenheit ihr Gesicht und setzte sich zurecht, indem sie, wie immer, wenn es galt, Charakter und Würde zu zeigen, den Kopf zurücklegte und dennoch versuchte, das Kinn auf die Brust zu drücken.
»Ja, Tom«, sagte sie, und ihre verweinten Augen zwinkerten mit ernstem und gefaßtem Ausdruck zum Fenster hinüber, »ich will auch verständig sein … ich bin es schon. Du mußt verzeihen … und du auch, Gerda … daß ich geweint habe. Das kann einem ankommen … es ist eine Schwäche. Aber es ist nur äußerlich, glaubt mir. Ihr wißt sehr wohl, daß ich im Grunde eine vom Leben gestählte Frau bin … Ja, Tom, das mit dem toten Kapital leuchtet mir ein, so viel Verstand habe ich. Ich kann nur wiederholen, daß du tun mußt, was du für richtig hältst. Du mußt für uns denken und handeln, denn Gerda und ich sind Weiber, und Christian … nun, Gott sei mit ihm!… Wir können dir nicht Widerpart halten, denn was wir vorbringen können, sind keine Gegengründe, sondern Sentiments, das liegt auf der Hand. An wen wirst du es wohl verkaufen, Tom? Meinst du, daß es bald vonstatten gehen wird?«
»Ja, Kind, wenn ich das wüßte … Immerhin … ich habe schon heute morgen ein paar Worte mit Gosch, dem alten Makler Gosch, gewechselt; er schien nicht abgeneigt, die Sache in die Hand zu nehmen …«
»Das wäre gut, ja, das wäre sehr gut. Sigismund Gosch hat natürlich seine Schwächen … Das mit seinen Übersetzungen aus dem Spanischen, wovon man erzählt – ich kann nicht wissen, wie der Dichter heißt – ist etwas sonderbar, das mußt du zugeben, Tom. Aber er war schon ein Freund vom Vater und ist ein grundehrlicher Mann. Und dann hat er Herz, dafür ist er bekannt. Er wird begreifen, daß es sich hier nicht um irgendeinen Kauf handelt, um irgendein beliebiges Haus … Was denkst du, Tom, was wirst du verlangen? Hunderttausend Kurantmark sind doch das wenigste, wie?…«