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Buddenbrooks-Siebenter Teil-Drittes Kapitel
日期:2022-03-21 14:10  点击:230
James Möllendorpf, der älteste kaufmännische Senator, starb auf groteske und schauerliche Weise. Diesem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden gekommen, daß er in den letzten Jahren seines Lebens mehr und mehr einer Leidenschaft für Kuchen und Torten unterlegen war. Doktor Grabow, der auch bei Möllendorpfs Hausarzt war, hatte mit aller Energie, deren er fähig war, protestiert, und die besorgte Familie hatte ihrem Oberhaupte das süße Gebäck mit sanfter Gewalt entzogen. Was aber hatte der Senator getan? Geistig gebrochen, wie er war, hatte er sich irgendwo in einer unstandesgemäßen Straße, in der Kleinen Gröpelgrube, An der Mauer oder im Engelswisch ein Zimmer gemietet, eine Kammer, ein wahres Loch, wohin er sich heimlich geschlichen hatte, um Torte zu essen … und dort fand man auch den Entseelten, den Mund noch voll halb zerkauten Kuchens, dessen Reste seinen Rock befleckten und auf dem ärmlichen Tische umherlagen. Ein tödlicher Schlaganfall war der langsamen Auszehrung zuvorgekommen.
 
Die widerlichen Einzelheiten dieses Todesfalles wurden von der Familie nach Möglichkeit geheimgehalten; aber sie verbreiteten sich rasch in der Stadt und bildeten den Gesprächsstoff an der Börse, im »Klub«, in der »Harmonie«, in den Kontors, in der Bürgerschaft und auf den Bällen, Diners und Abendgesellschaften, denn das Ereignis fiel in den Februar – den Februar des Jahres 62 – und das gesellschaftliche Leben war noch in vollem Gange. Selbst die Freundinnen der Konsulin Buddenbrook erzählten sich am »Jerusalemsabend« von Senator Möllendorpfs Tode, wenn Lea Gerhardt im Vorlesen eine Pause machte, selbst die kleinen Sonntagsschülerinnen flüsterten davon, wenn sie ehrfürchtig über die große Buddenbrooksche Diele gingen, und Herr Stuht in der Glockengießerstraße hatte mit seiner Frau, die in den ersten Kreisen verkehrte, eine ausführliche Unterredung darüber.
 
Allein das Interesse konnte nicht lange auf das Zurückliegende gerichtet bleiben. Gleich mit dem ersten Gerücht von dem Ableben dieses alten Ratsherrn war die eine große Frage aufgetaucht … als aber die Erde ihn deckte, war es diese Frage allein, die alle Gemüter beherrschte: Wer ist der Nachfolger?
 
Welche Spannung und welche unterirdische Geschäftigkeit! Der Fremde, der gekommen ist, die mittelalterlichen Sehenswürdigkeiten und die anmutige Umgebung der Stadt in Augenschein zu nehmen, merkt nichts davon; aber welch Treiben unter der Oberfläche! Welche Agitation! Ehrenfeste, gesunde, von keiner Skepsis angekränkelte Meinungen platzen aufeinander, poltern vor Überzeugung, prüfen einander und verständigen sich langsam, langsam. Die Leidenschaften sind aufgeregt. Ehrgeiz und Eitelkeit wühlen im stillen. Eingesargte Hoffnungen regen sich, stehen auf und werden enttäuscht. Der alte Kaufmann Kurz in der Bäckergrube, der bei jeder Wahl drei oder vier Stimmen erhält, wird wiederum am Wahltage bebend in seiner Wohnung sitzen und des Rufes harren; aber er wird auch diesmal nicht gewählt werden, er wird fortfahren, mit einer Miene voll Biedersinn und Selbstzufriedenheit, das Trottoir mit seinem Spazierstock zu stoßen, und er wird sich mit diesem heimlichen Grame ins Grab legen, nicht Senator geworden zu sein …
 
Als James Möllendorpfs Tod am Donnerstage beim Buddenbrookschen Familienmittagessen besprochen worden war, hatte Frau Permaneder nach einigen Ausdrücken des Bedauerns begonnen, ihre Zungenspitze an der Oberlippe spielen zu lassen und verschlagen zu ihrem Bruder hinüberzublicken, was die Damen Buddenbrook veranlaßt hatte, unbeschreiblich spitzige Blicke zu tauschen und dann sämtlich, wie auf Kommando, während einer Sekunde Augen und Lippen ganz fest zu schließen. Der Konsul hatte einen Moment das listige Lächeln seiner Schwester erwidert und dann dem Gespräche eine andere Richtung gegeben. Er wußte, daß man in der Stadt den Gedanken aussprach, den Tony glückselig in sich bewegte …
 
Namen wurden genannt und verworfen. Andere tauchten auf und wurden gesichtet. Henning Kurz in der Bäckergrube war zu alt. Eine frische Kraft war endlich vonnöten. Konsul Huneus, der Holzhändler, dessen Millionen übrigens nicht leicht ins Gewicht gefallen wären, war verfassungsmäßig ausgeschlossen, weil sein Bruder dem Senate angehörte. Konsul Eduard Kistenmaker, der Weinhändler, und Konsul Hermann Hagenström behaupteten sich auf der Liste. Von Anfang an aber klang beständig dieser Name mit: Thomas Buddenbrook. Und je mehr der Wahltag sich näherte, desto klarer ward es, daß er zusammen mit Hermann Hagenström die meisten Chancen besaß.
 
Kein Zweifel, Hermann Hagenström hatte Anhänger und Bewunderer. Sein Eifer in öffentlichen Angelegenheiten, die frappierende Schnelligkeit, mit der die Firma Strunck & Hagenström emporgeblüht war und sich entfaltet hatte, des Konsuls luxuriöse Lebensführung, das Haus, das er führte, und die Gänseleberpastete, die er frühstückte, verfehlten nicht, ihren Eindruck zu machen. Dieser große, ein wenig zu fette Mann mit seinem rötlichen, kurzgehaltenen Vollbart und seiner ein wenig zu platt auf der Oberlippe liegenden Nase, dieser Mann, dessen Großvater noch niemand und er selbst nicht gekannt hatte, dessen Vater infolge seiner reichen, aber zweifelhaften Heirat gesellschaftlich noch beinahe unmöglich gewesen war und der dennoch, verschwägert sowohl mit den Huneus als mit den Möllendorpfs, seinen Namen denjenigen der fünf oder sechs herrschenden Familien angereiht und gleichgestellt hatte, war unleugbar eine merkwürdige und respektable Erscheinung in der Stadt. Das Neuartige und damit Reizvolle seiner Persönlichkeit, das, was ihn auszeichnete und ihm in den Augen vieler eine führende Stellung gab, war der liberale und tolerante Grundzug seines Wesens. Die legere und großzügige Art, mit der er Geld verdiente und verausgabte, war etwas anderes als die zähe, geduldige und von streng überlieferten Prinzipien geleitete Arbeit seiner kaufmännischen Mitbürger. Dieser Mann stand frei von den hemmenden Fesseln der Tradition und der Pietät auf seinen eigenen Füßen, und alles Altmodische war ihm fremd. Er bewohnte keines der alten, mit unsinniger Raumverschwendung gebauten Patrizierhäuser, um deren ungeheure Steindielen sich weißlackierte Galerien zogen. Sein Haus in der Sandstraße – der südlichen Verlängerung der Breiten Straße –, mit schlichter Ölfassade, praktisch ausgebeuteten Raumverhältnissen und reicher, eleganter, bequemer Einrichtung, war neu und jedes steifen Stiles bar. Übrigens hatte er in dieses sein Haus noch vor kurzem, gelegentlich einer seiner größeren Abendgesellschaften, eine ans Stadttheater engagierte Sängerin geladen, hatte sie nach Tische vor seinen Gästen, unter denen sich auch sein kunstliebender und schöngeistiger Bruder, der Rechtsgelehrte, befand, singen lassen und die Dame aufs glänzendste honoriert. Er war nicht der Mann, in der Bürgerschaft die Bewilligung größerer Geldsummen zur Restaurierung und Erhaltung der mittelalterlichen Denkmäler zu befürworten. Daß er aber der erste, absolut in der ganzen Stadt der erste gewesen war, der seine Wohnräume und seine Kontors mit Gas beleuchtet hatte, war Tatsache. Gewiß, wenn Konsul Hagenström irgendeiner Tradition lebte, so war es die von seinem Vater, dem alten Hinrich Hagenström, übernommene unbeschränkte, fortgeschrittene, duldsame und vorurteilsfreie Denkungsart, und hierauf gründete sich die Bewunderung, die er genoß.
 
Das Prestige Thomas Buddenbrooks war anderer Art. Er war nicht nur er selbst; man ehrte in ihm noch die unvergessenen Persönlichkeiten seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters, und abgesehen von seinen eigenen geschäftlichen und öffentlichen Erfolgen war er der Träger eines hundertjährigen Bürgerruhmes. Die leichte, geschmackvolle und bezwingend liebenswürdige Art freilich, in der er ihn repräsentierte und verwertete, war wohl das Wichtigste; und was ihn auszeichnete, war ein selbst unter seinen gelehrten Mitbürgern ganz ungewöhnlicher Grad formaler Bildung, der, wo er sich äußerte, ebensoviel Befremdung wie Respekt erregte …
 
Donnerstags, bei Buddenbrooks, war von der bevorstehenden Wahl in Gegenwart des Konsuls meist nur in Form von kurzen und fast gleichgültigen Bemerkungen die Rede, bei denen die alte Konsulin diskret ihre hellen Augen beiseiteschweifen ließ. Hie und da aber konnte Frau Permaneder sich trotzdem nicht entbrechen, ein wenig mit ihrer erstaunlichen Kenntnis der Staatsverfassung zu prunken, deren Satzungen sie, soweit sie die Wahl eines Senatsmitgliedes betrafen, ebenso eingehend studiert hatte wie vor Jahr und Tag die Scheidungsparagraphen. Sie sprach dann von Wahlkammern, Wahlbürgern und Stimmzetteln, erwog alle denkbaren Eventualitäten, zitierte wörtlich und ohne Anstoß den feierlichen Eid, der von den Wählern zu leisten ist, erzählte von der »freimütigen Besprechung«, die verfassungsmäßig von den einzelnen Wahlkammern über alle diejenigen vorgenommen wird, deren Namen auf der Kandidatenliste stehen, und gab dem lebhaften Wunsche Ausdruck, an der »freimütigen Besprechung« der Persönlichkeit Hermann Hagenströms teilnehmen zu dürfen. Einen Augenblick später beugte sie sich vor und begann, die Pflaumenkerne auf dem Kompotteller ihres Bruders zu zählen: »Edelmann – Bedelmann – Doktor – Pastor – – Ratsherr!« sagte sie und schnellte mit ihrer Messerspitze den fehlenden Kern auf den kleinen Teller hinüber … Nach Tische aber, unfähig, an sich zu halten, zog sie den Konsul am Arme beiseite, in eine Fensternische.
 
»O Gott, Tom! wenn du es wirst … wenn unser Wappen in die Kriegsstube im Rathause kommt … ich sterbe vor Freude! ich falle um und bin tot, du sollst sehen!«
 
»So, liebe Tony! Nun etwas mehr Haltung und Würde, wenn ich dich bitten darf! Das pflegt dir doch sonst nicht abzugehen? Gehe ich umher wie Henning Kurz? Wir sind auch ohne ›Senator‹ was … Und du wirst hoffentlich am Leben bleiben, im einen wie im anderen Falle.«
 
Und die Agitation, die Beratungen, die Kämpfe der Meinungen nahmen ihren Fortgang. Konsul Peter Döhlmann, der Suitier, mit seinem gänzlich verkommenen Geschäft, das nur noch dem Namen nach existierte, und seiner 27jährigen Tochter, deren Erbe er verfrühstückte, beteiligte sich daran, indem er bei einem Diner, das Thomas Buddenbrook gab, und bei einem ebensolchen, das Hermann Hagenström veranstaltete, jedesmal den betreffenden Wirt mit schallender und lärmender Stimme »Herr Senator« nannte. Siegismund Gosch aber, der alte Makler Gosch, ging umher wie ein brüllender Löwe und machte sich anheischig, ohne Umschweife jeden zu erdrosseln, der nicht gewillt sei, für Konsul Buddenbrook zu stimmen.
 
»Konsul Buddenbrook, meine Herren … ha! welch ein Mann! Ich habe an der Seite seines Vaters gestanden, als er anno 48 mit einem Worte die Wut des entfesselten Pöbels zähmte … Gäbe es eine Gerechtigkeit auf Erden, so hätte schon sein Vater, schon der Vater seines Vaters dem Senate angehören müssen …«
 
Im Grunde jedoch war es nicht sowohl Konsul Buddenbrook selbst, dessen Persönlichkeit das Innere des Herrn Gosch in Flammen setzte, als vielmehr die junge Frau Konsulin, geborene Arnoldsen. Nicht als ob der Makler jemals ein Wort mit ihr gewechselt hätte. Er gehörte nicht zu dem Kreise der reichen Kaufleute, speiste nicht an ihren Tafeln und tauschte nicht Visiten mit ihnen. Aber, wie schon erwähnt, Gerda Buddenbrook war nicht sobald in der Stadt erschienen, als der immer sehnsüchtig nach Außerordentlichem schweifende Blick des finsteren Maklers sie auch schon erspäht hatte. Mit sicherem Instinkte hatte er alsbald erkannt, daß diese Erscheinung geeignet sei, seinem unbefriedigten Dasein ein wenig mehr Inhalt zu verleihen, und mit Leib und Seele hatte er sich ihr, die ihn kaum dem Namen nach kannte, als Sklave ergeben. Seitdem umkreiste er in Gedanken diese nervöse und aufs äußerste reservierte Dame, der niemand ihn vorstellte, wie der Tiger den Bändiger: mit demselben verbissenen Mienenspiel, derselben tückisch-demütigen Haltung, in der er auf der Straße, ohne daß sie das erwartet hätte, seinen Jesuitenhut vor ihr zog … Diese Welt der Mittelmäßigkeit bot ihm keine Möglichkeit, für diese Frau eine Tat von gräßlicher Ruchlosigkeit zu begehen, welche er, bucklig, düster und kalt in seinen Mantel gehüllt, mit teuflischem Gleichmut verantwortet haben würde! Ihre langweiligen Gewohnheiten gestatteten ihm nicht, diese Frau durch Mord, Verbrechen und blutige Listen auf einen Kaiserthron zu erhöhen. Nichts ließ sie ihm übrig, als im Rathause für die Wahl ihres ingrimmig verehrten Gatten zu stimmen und ihr, vielleicht, dereinst, die Übersetzung von Lope de Vegas sämtlichen Dramen zu widmen. 

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