Sie schrieb: »Und wenn ich ›Frikadellen‹ sage, so begreift sie es nicht, denn es heißt hier ›Pflanzerln‹; und wenn sie ›Karfiol‹ sagt, so findet sich wohl nicht so leicht ein Christenmensch, der darauf verfällt, daß sie Blumenkohl meint; und wenn ich sage: ›Bratkartoffeln‹, so schreit sie so lange ›Wahs!‹, bis ich ›Geröhste Kartoffeln‹ sage, denn so heißt es hier, und mit ›Wahs‹ meint sie ›Wie beliebt‹. Und das ist nun schon die zweite, denn die erste Person, welche Kathi hieß, habe ich mir erlaubt, aus dem Hause zu schicken, weil sie immer gleich grob wurde; oder wenigstens schien es mir so, denn ich kann mich auch geirrt haben, wie ich nachträglich einsehe, denn man weiß hier nicht recht, ob die Leute eigentlich grob oder freundlich reden. Diese jetzige, welche Babette heißt, was Babett auszusprechen ist, hat übrigens ein recht angenehmes Exterieur und schon etwas ganz Südliches, wie es hier manche gibt, mit schwarzem Haar und schwarzen Augen und Zähnen, um die man sie beneiden könnte. Auch sie ist willig und bereitet unter meiner Anleitung manches von unseren heimatlichen Gerichten, so gestern zum Beispiel Sauerampfer mit Korinthen, aber davon habe ich großen Kummer gehabt, denn Permaneder nahm mir dies Gemüse so übel (obgleich er die Korinthen mit der Gabel herauspickte), daß er den ganzen Nachmittag nicht mit mir sprach, sondern nur murrte, und kann ich sagen, Mutter, daß das Leben nicht immer leicht ist.«
Allein, es waren nicht nur die »Pflanzerln« und der Sauerampfer, die ihr das Leben verbitterten … Gleich in den Flitterwochen hatte ein Schlag sie getroffen, ein Unvorhergesehenes, Ungeahntes, Unfaßliches war über sie hereingebrochen, ein Ereignis, das ihr alle Freudigkeit genommen hatte und das sie nicht zu verwinden vermochte. Dieses Ereignis war folgendes.
Erst als das Ehepaar Permaneder bereits einige Wochen in München lebte, hatte Konsul Buddenbrook die testamentarisch fixierte Mitgift seiner Schwester, das heißt 51000 Mark Kurant, flüssig machen können, und diese Summe war hierauf, in Gulden umgesetzt vollkommen richtig in Herrn Permaneders Hände gelangt. Herr Permaneder hatte sie sicher und nicht ungünstig deponiert. Was er aber dann, ohne Zögern und Erröten, seiner Gattin gesagt hatte, war dies: »Tonerl« – er nannte sie Tonerl – »Tonerl, mir war's gnua. Mehr brauchen mer nimmer. I hab' mi allweil g'schunden, und jetzt will i mei Ruh, Himmi Sakrament. Mer vermieten's Parterre und die zwoate Etasch, und dahier hamer a guate Wohnung und können a Schweinshaxen essen und brauchen uns net allweil gar so nobi z'sammrichten und aufdrahn … und am Abend hab' i 's Hofbräuhaus. I bin ka Prozen net und mag net allweil a Göld z'ammscharrn; i mag mei G'müatlichkeit! Von morgen ab mach' i Schluß und werd' Privatier!«
»Permaneder!« hatte sie ausgerufen, und zwar zum ersten Male mit dem ganz besonderen Kehllaut, mit dem sie Herrn Grünlichs Namen zu nennen pflegte. Er aber hatte nur geantwortet: »A geh, sei stad!« und dann hatte ein Streit sich entsponnen, wie er, so früh, so ernst und heftig, das Glück einer Ehe für alle Zeit erschüttern muß … Er war Sieger geblieben. Ihr leidenschaftlicher Widerstand war an seinem Drang nach »G'müatlichkeit« gescheitert, das Ende war gewesen, daß Herr Permaneder sein in dem Hopfengeschäft steckendes Kapital liquidiert hatte, so daß nun Herr Noppe seinerseits das »Komp.« auf seiner Karte blau durchstreichen konnte … und wie die Mehrzahl seiner Freunde, mit denen er abends am Stammtische im Hofbräuhause Karten spielte und seine regelmäßigen drei Liter trank, beschränkte Tonys Gatte nun seine Tätigkeit auf Mietesteigern als Hausbesitzer und ein bescheidenes und friedliches Kuponschneiden.
Der Konsulin war dies ganz einfach mitgeteilt worden. In den Briefen aber, die Frau Permaneder darüber an ihren Bruder geschrieben hatte, war der Schmerz zu erkennen gewesen, den sie empfand … arme Tony! ihre schlimmsten Befürchtungen waren weitaus übertroffen worden. Sie hatte zuvor gewußt, daß Herr Permaneder nichts von der »Regsamkeit« besaß, von der ihr erster Gatte zu viel an den Tag gelegt hatte; daß er aber so gänzlich die Erwartungen zuschanden machen werde, die sie noch am Vorabend ihrer Verlobung gegen Mamsell Jungmann ausgesprochen hatte, daß er so völlig die Verpflichtungen verkennen werde, die er übernahm, indem er eine Buddenbrook ehelichte, das hatte sie nicht geahnt …
Es mußte verwunden werden, und ihre Familie zu Hause ersah aus ihren Briefen, wie sie resignierte. Ziemlich einförmig lebte sie mit ihrem Manne und Erika, welche die Schule besuchte, dahin, besorgte ihren Hausstand, verkehrte freundschaftlich mit den Leuten, die für das Parterre und den ersten Stock sich als Mieter gefunden hatten, sowie mit der Familie Niederpaur am Marienplatz und berichtete dann und wann von Hoftheaterbesuchen, die sie mit ihrer Freundin Eva vornahm, denn Herr Permaneder liebte dergleichen nicht, und es erwies sich, daß er, der in seinem »liaben« München mehr als vierzig Jahre alt geworden war, noch niemals das Innere der Pinakothek erblickt hatte.
Die Tage gingen … Die rechte Freude aber an ihrem neuen Leben war für Tony dahin, seit Herr Permaneder sich sofort nach dem Empfang ihrer Mitgift zur Ruhe gesetzt hatte. Die Hoffnung fehlte. Niemals würde sie einen Erfolg, einen Aufschwung nach Hause berichten können. So wie es jetzt war, sorglos aber beschränkt und so herzlich wenig »vornehm«, so sollte es unabänderlich bleiben bis an ihr Lebensende. Das lastete auf ihr. Und aus ihren Briefen ging ganz deutlich hervor, daß gerade diese nicht sehr gehobene Stimmung ihr die Eingewöhnung in die süddeutschen Verhältnisse erschwerte. Es ging ja im einzelnen. Sie lernte es, sich mit den Dienstmädchen und Lieferanten zu verständigen, »Pflanzerln« statt »Frikadellen« zu sagen und ihrem Manne keine Fruchtsuppe mehr vorzusetzen, nachdem er dergleichen als »a G'schlamp, a z'widres« bezeichnet hatte. Aber im großen ganzen blieb sie stets eine Fremde in ihrer neuen Heimat, denn die Empfindung, daß eine geborene Buddenbrook zu sein hier unten durchaus nichts Bemerkenswertes war, bedeutete eine beständige, eine unaufhörliche Demütigung für sie, und wenn sie brieflich erzählte, irgendein Maurersmann habe sie, in der einen Hand einen Maßkrug und in der anderen einen Radi am Schwanze, auf der Straße angeredet und gesagt: »I bitt', wiea spät is', Frau Nachborin?«, so war trotz aller Scherzhaftigkeit ein sehr starker Unterton von Entrüstung fühlbar, und man konnte überzeugt sein, daß sie den Kopf zurückgelegt und den Mann weder einer Antwort noch eines Blickes gewürdigt hatte … Übrigens war es nicht diese Formlosigkeit und dieser geringe Sinn für Distanz allein, was ihr fremd und unsympathisch blieb: Sie drang nicht tief in das Münchener Leben und Treiben ein, aber es umgab sie doch die Münchener Luft, die Luft einer großen Stadt, voller Künstler und Bürger, die nichts taten, eine ein wenig demoralisierte Luft, die mit Humor einzuatmen ihre Stimmung ihr oft verwehrte.
Die Tage gingen … Dann aber schien doch ein Glück kommen zu wollen, und zwar dasjenige, welches man in der »Breiten Straße« und der »Mengstraße« vergeblich ersehnte, denn nicht lange nach dem Neujahrstage 1859 ward die Hoffnung zur Gewißheit, daß Tony zum zweiten Male Mutter werden sollte.
Die Freude zitterte nun gleichsam in ihren Briefen, die so voll von übermütigen, kindlichen und gewichtigen Redewendungen waren, wie lange nicht mehr. Die Konsulin, welche, abgesehen von ihren Sommerfahrten, die sich übrigens mehr und mehr auf den Ostseestrand beschränkten, das Reisen nicht mehr liebte, bedauerte, ihrer Tochter in dieser Zeit fernbleiben zu müssen und versicherte sie nur schriftlich des göttlichen Beistandes; Tom aber sowohl wie Gerda meldeten sich zur Taufe an, und Tonys Kopf war erfüllt von Plänen in betreff eines vornehmen Empfanges … Arme Tony! Dieser Empfang sollte sich unendlich traurig gestalten, und diese Taufe, die ihr als ein entzückendes kleines Fest mit Blumen, Konfekt und Schokolade vor Augen geschwebt hatte, sollte überhaupt nicht stattfinden, – denn das Kind, ein kleines Mädchen, sollte nur ins Leben treten, um nach einer armen Viertelstunde, während welcher der Arzt sich vergeblich bemühte, den unfähigen kleinen Organismus in Gang zu halten, dem Dasein schon nicht mehr anzugehören …
Konsul Buddenbrook und seine Gattin fanden, als sie in München eintrafen, Tony selbst nicht außer Gefahr. Weit schwerer als das erstemal lag sie danieder, und während mehrerer Tage verweigerte ihr Magen, an dessen nervöser Schwäche sie schon vorher hie und da gelitten hatte, die Annahme fast jeder Nahrung. Indessen, sie genas, und die Buddenbrooks konnten in dieser Beziehung beruhigt abreisen, – wenn auch andererseits nicht ohne Nachdenklichkeit, denn es hatte sich ihnen allzu deutlich gezeigt und besonders der Beobachtung des Konsuls war es nicht entgangen, daß nicht einmal das gemeinsame Leid imstande gewesen war, die beiden Gatten einander erheblich zu nähern.
Nichts gegen Herrn Permaneders gutes Herz … Er war aufrichtig erschüttert gewesen, dicke Tränen waren angesichts seines leblosen Kindes aus den verquollenen Äuglein über die zu aufgetriebenen Wangen in den ausgefransten Schnauzbart geflossen, und er hatte mehrere Male mit schwerem Seufzen hervorgebracht: »Es is halt a Kreiz! A Kreiz is'! O mei!« Aber seine »G'müatlichkeit« hatte nach Tonys Begriffen nicht lange genug darunter gelitten, seine Abendstunden im Hofbräuhaus hatten ihn bald darüber hinweggebracht, und mit dem bequemen, gutmütigen, ein bißchen mürrischen und ein bißchen stumpfsinnigen Fatalismus, der in seinem »Es is halt a Kreiz!« enthalten war, »wurstelte« er fort.
Tonys Briefe aber verloren von nun an nicht mehr den Ton von Hoffnungslosigkeit und selbst von Anklage … »Ach, Mutter«, schrieb sie, »was kommt auch alles auf mich herab! Erst Grünlich und der Bankerott und dann Permaneder als Privatier und dann das tote Kind. Womit habe ich soviel Unglück verdient!«
Der Konsul, zu Hause, wenn er solche Äußerungen las, konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, denn trotz alles Schmerzes, der in den Zeilen steckte, verspürte er einen Unterton von beinahe drolligem Stolz, und er wußte, daß Tony Buddenbrook als Madame Grünlich sowohl wie als Madame Permaneder immer ein Kind blieb, daß sie alle ihre sehr erwachsenen Erlebnisse fast ungläubig, dann aber mit kindlichem Ernst, kindlicher Wichtigkeit und – vor allem – kindlicher Widerstandsfähigkeit erlebte.
Sie begriff nicht, womit sie Leid verdient habe; denn, obgleich sie sich über die große Frömmigkeit ihrer Mutter mokierte, war sie selbst so voll davon, daß sie an Verdienst und Gerechtigkeit auf Erden inbrünstig glaubte … arme Tony! Der Tod ihres zweiten Kindes war weder der letzte noch der härteste Schlag, der sie treffen sollte …