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Buddenbrooks-Sechster Teil-Zweites Kapitel
日期:2022-03-21 12:42  点击:224
Am Ende des April zog Frau Grünlich wieder im Elternhause ein, und obgleich nun abermals ein Stück Leben hinter ihr lag, obgleich das alte Dasein wieder begann, sie wieder den Andachten beiwohnen und am Jerusalemsabend Lea Gerhardt vorlesen hören mußte, befand sie sich ganz augenscheinlich in froher und hoffnungsvoller Stimmung.
 
Gleich als ihr Bruder, der Konsul, sie vom Bahnhofe abgeholt hatte – sie war von Büchen gekommen – und mit ihr durch das Holstentor in die Stadt gefahren war, hatte er nicht umhin gekonnt, ihr das Kompliment zu machen, daß – nächst Klothilden – sie doch noch immer die Schönste in der Familie sei, worauf sie geantwortet hatte: »O Gott, Tom, ich hasse dich! Eine alte Frau in dieser Weise zu verhöhnen …«
 
Aber es hatte trotzdem seine Richtigkeit: Madame Grünlich konservierte sich aufs vorteilhafteste, und angesichts ihres starken, aschblonden Haares, das zu beiden Seiten des Scheitels gepolstert, über den kleinen Ohren zurückgestrichen und auf der Höhe des Kopfes mit einem breiten Schildkrotkamm zusammengefaßt war – angesichts des weichen Ausdrucks, der ihren graublauen Augen blieb, ihrer hübschen Oberlippe, des feinen Ovals und der zarten Farben ihres Gesichtes hätte man nicht auf dreißig, sondern auf dreiundzwanzig Jahre geraten. Sie trug höchst elegante herabhängende Ohrringe von Gold, die in etwas anderer Form schon ihre Großmutter getragen hatte. Eine lose sitzende Taille aus leichtem, dunklem Seidenstoff mit Atlasrevers und flachen Epaulettes von Spitzen gab ihrer Büste einen entzückenden Ausdruck von Weichheit …
 
Sie befand sich in bester Laune, wie gesagt, und erzählte Donnerstags, wenn Konsul Buddenbrooks und die Damen Buddenbrook aus der Breitenstraße, Konsul Krögers, Klothilde und Sesemi Weichbrodt mit Erika zu Tische kamen, aufs anschaulichste von München, von dem Biere, den Dampfnudeln, dem Kunstmaler, der sie hatte porträtieren wollen, und den Hofequipagen, die ihr den größten Eindruck gemacht hatten. Sie erwähnte im Vorübergehen auch des Herrn Permaneder, und gesetzt den Fall, daß Pfiffi Buddenbrook eine oder die andere Bemerkung darüber fallen ließ, daß so eine Reise ja recht angenehm sei, daß jedoch irgendein praktischer Erfolg sich nicht scheine eingestellt zu haben, so überhörte Frau Grünlich das mit einer unsäglichen Würde, indem sie den Kopf zurücklegte und trotzdem das Kinn auf die Brust zu drücken suchte …
 
Übrigens eignete sie sich die Gewohnheit an, immer, wenn die Glocke der Windfangtür über die große Diele schallte, auf den Treppenabsatz zu eilen, um zu sehen, wer käme … Was mochte dies zu bedeuten haben? Das wußte wohl nur Ida Jungmann, Tonys Erzieherin und langjährige Vertraute, die hier und da etwas zu ihr sagte, wie: »Tonychen, mein Kindchen, sollst sehen, er wird kommen! Er wird doch kein Dujak sein wollen …«
 
Die einzelnen Familienglieder wußten der heimgekehrten Antonie Dank für ihre Heiterkeit; die Stimmung im Hause bedurfte dringend der Aufmunterung, und zwar aus dem Grunde, weil das Verhältnis zwischen dem Firmenchef und seinem jüngeren Bruder sich im Verlaufe der Zeit nicht gebessert, sondern in trauriger Weise verschlimmert hatte. Ihre Mutter, die Konsulin, die diesen Gang der Dinge mit Kummer verfolgte, hatte genug zu tun, zwischen den beiden notdürftig zu vermitteln … Ihren Ermahnungen, das Kontor mit größerer Regelmäßigkeit zu besuchen, war Christian mit zerstreutem Schweigen begegnet, und diejenigen seines Bruders selbst hatte er mit einer ernsten, unruhigen und nachdenklichen Beschämung ohne Widerspruch über sich ergehen lassen, um dann während weniger Tage der englischen Korrespondenz mit etwas mehr Eifer obzuliegen. Mehr und mehr aber entwickelte sich in dem Älteren eine gereizte Verachtung gegen den Jüngeren, die dadurch nicht beeinträchtigt wurde, daß Christian ihre gelegentlichen Äußerungen ohne Gegenwehr und mit nachdenklich umherwandernden Augen entgegennahm.
 
Thomas' angestrengte Tätigkeit, der Zustand seiner Nerven gestattete ihm nicht, mit Teilnahme oder Gelassenheit Christians eingehende Mitteilungen über seine wechselnden Krankheitserscheinungen anzuhören, und seiner Mutter oder Schwester gegenüber nannte er sie mit Unwillen »die albernen Ergebnisse einer widerwärtigen Selbstbeobachtung«.
 
Die Qual, die unbestimmte Qual in Christians linkem Beine, war seit einiger Zeit mehreren äußerlichen Mitteln gewichen; die Schluckbeschwerden aber kehrten noch oft bei Tische wieder, und neuerdings war eine zeitweilige Atemnot, ein asthmatisches Übel hinzugetreten, das Christian während längerer Wochen für Lungenschwindsucht hielt und dessen Wesen und Wirkungen er seiner Familie mit gekrauster Nase in ausführlichen Beschreibungen mitzuteilen bemüht war. Doktor Grabow wurde zu Rate gezogen. Er stellte fest, daß Herz und Lunge recht kräftig arbeiteten, daß aber der gelegentliche Atemmangel auf eine gewisse Trägheit gewisser Muskeln zurückzuführen sei, und verordnete zur Erleichterung der Respiration erstens den Gebrauch eines Fächers, zweitens ein grünliches Pulver, das man entzünden und dessen Rauch man einatmen mußte. Des Fächers bediente Christian sich auch im Kontor, und auf einen Vorhalt des Chefs antwortete er, daß in Valparaiso jeder Kontorist schon der Hitze wegen einen Fächer besessen habe: »Johnny Thunderstorm … du lieber Gott!« Als er aber eines Tages, nachdem er längere Zeit ernst und unruhig auf seinem Sessel hin und her gerückt, auch sein Pulver im Kontor aus der Tasche zog und einen so starken und übelriechenden Qualm entwickelte, daß mehrere Leute heftig zu husten begannen und Herr Marcus sogar ganz blaß wurde … da gab es einen öffentlichen Eklat, einen Skandal, eine fürchterliche Auseinandersetzung, die zum sofortigen Bruch geführt haben würde, hätte nicht die Konsulin noch einmal alles vertuscht, mit Vernunft besprochen und zum Guten gewandt …
 
Es war nicht dies allein. Auch das Leben, das Christian außerhalb des Hauses, und zwar meistens gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Doktor Gieseke, seinem Schulkameraden, führte, verfolgte der Konsul mit Widerwillen. Er war kein Mucker und Spielverderber. Er erinnerte sich wohl seiner eigenen Jugendsünden. Er wußte wohl, daß seine Vaterstadt, diese Hafen- und Handelsstadt, in der die geschäftlich hochachtbaren Bürger mit so unvergleichlich ehrenfester Miene das Trottoir mit ihren Spazierstöcken stießen, keineswegs die Heimstätte makelloser Moralität sei. Man entschädigte sich hier für seine auf dem Kontorbock seßhaft verbrachten Tage nicht nur mit schweren Weinen und schweren Gerichten … Aber ein dicker Mantel von biederer Solidität bedeckte diese Entschädigungen, und wenn es Konsul Buddenbrooks erstes Gesetz war, »die Dehors zu wahren«, so zeigte er sich in dieser Beziehung durchdrungen von der Weltanschauung seiner Mitbürger. Der Rechtsanwalt Gieseke gehörte zu den »Gelehrten«, die sich der Daseinsform der »Kaufleute« behaglich anpaßten, und zu den notorischen »Suitiers«, was ihm übrigens jedermann ansehen konnte. Aber wie die übrigen behäbigen Lebemänner verstand er es, die richtige Miene dazu zu machen, Ärgernis zu vermeiden und seinen politischen und beruflichen Grundsätzen den Ruf unanfechtbarer Solidität zu wahren. Seine Verlobung mit einem Fräulein Huneus war soeben publik geworden. Er erheiratete also einen Platz in der ersten Gesellschaft und eine bedeutende Mitgift. Er war mit stark unterstrichenem Interesse in städtischen Angelegenheiten tätig, und man sagte sich, daß er sein Augenmerk auf einen Sitz im Rathause und zuletzt wohl auf den Sessel des alten Bürgermeisters Doktor Överdieck gerichtet halte.
 
Christian Buddenbrook aber, sein Freund, derselbe, der einst entschlossenen Schrittes zu Mademoiselle Meyer-de la Grange gegangen war, ihr sein Blumenbukett gegeben und zu ihr gesagt hatte: »O Fräulein, wie schön haben Sie gespielt!« – Christian hatte sich infolge seines Charakters und seiner langen Wanderjahre zu einem Suitier von viel zu naiver und unbekümmerter Art entwickelt und war in Herzenssachen so wenig wie im übrigen geneigt, seinen Empfindungen Zwang anzutun, Diskretion zu üben, die Würde zu wahren. Über sein Verhältnis zu einer Statistin vom Sommertheater zum Beispiel amüsierte sich die ganze Stadt, und Frau Stuht aus der Glockengießerstraße, dieselbe, die in den ersten Kreisen verkehrte, erzählte es jeder Dame, die es hören wollte, daß »Krischan« wieder einmal mit der vom »Tivoli« auf offener, hellichter Straße gesehen worden sei.
 
Auch das nahm man nicht übel … Man war von einer zu biderben Skepsis, um ernstlich moralische Entrüstung an den Tag zu legen. Christian Buddenbrook und etwa Konsul Peter Döhlmann, den sein gänzlich darniederliegendes Geschäft veranlaßte, in ähnlich harmloser Weise zu Werke zu gehen, waren als Amüseurs beliebt und in Herrengesellschaft geradezu unentbehrlich. Aber sie waren eben nicht ernst zu nehmen; sie zählten in ernsthaften Angelegenheiten nicht mit; es war bezeichnend, daß in der ganzen Stadt, im Klub, an der Börse, am Hafen, nur ihre Vornamen genannt wurden: »Krischan« und »Peter«, und Übelwollenden, wie den Hagenströms, stand es frei, nicht über Krischans Geschichten und Späße, sondern über Krischan selbst zu lachen.
 
Er dachte daran nicht oder ging, seiner Art gemäß, nach einem Augenblick seltsam unruhigen Nachdenkens darüber hinweg. Sein Bruder, der Konsul, aber wußte es; er wußte, daß Christian den Widersachern der Familie einen Angriffspunkt bot, und … es waren der Angriffspunkte bereits zu viele. Die Verwandtschaft mit den Överdiecks war weitläufig und würde nach dem Tode des Bürgermeisters ganz wertlos sein. Die Krögers spielten gar keine Rolle mehr, lebten zurückgezogen und hatten arge Geschichten mit ihrem Sohne … Des seligen onkel Gotthold Mißheirat blieb etwas Unangenehmes … Des Konsuls Schwester war eine geschiedene Frau, wenn man auch die Hoffnung auf ihre Wiedervermählung nicht fahren zu lassen brauchte – und sein Bruder sollte ein lächerlicher Mensch sein, durch dessen Clownerien sich tätige Herren mit wohlwollendem oder höhnischem Lachen die Mußestunden ausfüllen ließen, der zu alledem Schulden machte und am Ende des Quartals, wenn er kein Geld mehr hatte, sich ganz offenkundig von Doktor Gieseke freihalten ließ … eine unmittelbare Blamage der Firma.
 
Die gehässige Verachtung, die Thomas auf seinem Bruder ruhen ließ und die dieser mit einer nachdenklichen Indifferenz ertrug, äußerte sich in all den feinen Kleinlichkeiten, wie sie nur zwischen Familiengliedern, die aufeinander angewiesen sind, zutage treten. Kam zum Beispiel das Gespräch auf die Geschichte der Buddenbrooks, so konnte Christian in die Stimmung geraten, die ihm allerdings nicht sehr gut zu Gesichte stand, mit Ernst, Liebe und Bewunderung von seiner Vaterstadt und seinen Vorfahren zu reden. Alsbald beendete der Konsul mit einer kalten Bemerkung das Gespräch. Er ertrug das nicht. Er verachtete seinen Bruder so sehr, daß er ihm nicht gestattete, dort zu lieben, wo er selbst liebte. Er hätte es viel lieber gehört, wenn Christian im Dialekte Marcellus Stengels davon gesprochen hätte. Er hatte ein Buch gelesen, irgendein historisches Werk, das starken Eindruck auf ihn gemacht und das er mit bewegten Worten rühmte. Christian, ein unselbständiger Kopf, der das Buch allein gar nicht ausfindig gemacht haben würde, aber eindrucksfähig und jeder Beeinflussung zugänglich, las es, in dieser Weise vorbereitet und empfänglich gemacht, nun gleichfalls, fand es ganz herrlich, gab seinen Empfindungen möglichst genauen Ausdruck … und fortan war das Buch für Thomas erledigt. Er sprach mit Gleichgültigkeit und Kälte davon. Er tat, als habe er es kaum gelesen. Er überließ seinem Bruder, es allein zu bewundern … 

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