In der Tat, es gab dieses Jahr einen lebhaften und festlichen Hochsommer im Buddenbrookschen Hause.
Am Ende des Juli traf Thomas wieder in der Mengstraße ein und besuchte, gleich den übrigen Herren, die in der Stadt geschäftlich in Anspruch genommen waren, seine Familie einige Male am Meere, während Christian sich daselbst vollkommene Ferien gemacht hatte, denn er klagte über einen unbestimmten Schmerz im linken Bein, mit dem Doktor Grabow durchaus nichts anzufangen wußte, und über den Christian daher desto eingehender nachdachte …
»Es ist kein Schmerz … so kann man es nicht nennen«, erklärte er mühsam, indem er mit der Hand an dem Beine auf und nieder fuhr, seine große Nase krauste und die Augen wandern ließ. »Es ist eine Qual, eine fortwährende, leise, beunruhigende Qual im ganzen Bein … und an der linken Seite, an der Seite, wo das Herz sitzt … Sonderbar … ich finde es sonderbar! Was denkst du eigentlich darüber, Tom …«
»Ja, ja …« sagte Tom. »Du hast nun Ruhe und Seebäder …«
Und dann ging Christian an die See hinunter, um der Badegesellschaft Geschichten zu erzählen, daß der Strand von Lachen widerhallte, oder in den Kursaal, um mit Peter Döhlmann, onkel Justus, Doktor Gieseke und einigen Hamburger Suitiers Roulette zu spielen.
Und Konsul Buddenbrook besuchte mit Tony, wie immer, wenn man in Travemünde war, die alten Schwarzkopfs in der Vorderreihe … »Good'n Dag ook, Ma'm' Grünlich!« sagte der Lotsenkommandeur und redete vor Freude platt. »Na, weetens woll noch? Dat's nu all bangig lang her, öäwer dat wier ne verdammt nette Tied … Un uns Morten, de is nu all lang Dokter in Breslau, un hei hett ook all ne ganz staatsche Praxis, der Bengel …« Dann lief Frau Schwarzkopf umher und machte Kaffee, und sie vesperten in der grünen Veranda wie ehemals … nur daß alle um volle zehn Jahre älter waren nunmehr, daß Morten und die kleine meta, die den Ortsvorsteher von Haffkrug geheiratet hatte, fern waren, daß der Kommandeur, schon ganz weiß und ziemlich taub, im Ruhestand lebte, daß seine Frau in ihrem Netze ebenfalls sehr graues Haar trug und Madame Grünlich keine Gans mehr war, sondern das Leben kennengelernt hatte, was sie aber nicht hinderte, eine Menge Scheibenhonig zu essen, denn sie sagte: »Das ist reines Naturprodukt; da weiß man doch, was man verschluckt!«
Zu Anfang des August jedoch kehrten Buddenbrooks wie die meisten anderen Familien in die Stadt zurück, und dann kam der große Augenblick, wo, fast gleichzeitig, Pastor Tiburtius von Rußland und die Arnoldsens von Holland her zu längerem Besuche in der Mengstraße eintrafen.
Es war eine sehr schöne Szene, als der Konsul zum ersten Male seine Braut ins Landschaftszimmer und zu seiner Mutter führte, die ihr mit ausgebreiteten Armen, den Kopf zur Seite geneigt, entgegenkam. Gerda, die mit freier und stolzer Anmut auf dem hellen Teppich dahinschritt, war hoch und üppig gewachsen. Mit ihrem schweren dunkelroten Haar, ihren nahe beieinander liegenden, braunen, von feinen bläulichen Schatten umlagerten Augen, ihren breiten, schimmernden Zähnen, die sie lächelnd zeigte, ihrer geraden, starken Nase und ihrem wundervoll edel geformten Munde war dieses siebenundzwanzigjährige Mädchen von einer eleganten, fremdartigen, fesselnden und rätselhaften Schönheit. Ihr Gesicht war mattweiß und ein wenig hochmütig; aber sie neigte es dennoch, als die Konsulin ihr Haupt mit sanfter Innigkeit zwischen beide Hände nahm und ihr die schneeige, makellose Stirne küßte … »Ja, nun heiße ich dich willkommen in unserem Hause und unserer Familie, du liebe, schöne, gesegnete Tochter«, sagte sie. »Du wirst ihn glücklich machen … sehe ich es nicht schon, wie glücklich du ihn machst?« Und sie zog mit dem rechten Arme Thomas herbei, um ihn ebenfalls zu küssen.
Niemals, höchstens vielleicht zu Großvaters Zeiten, war es heiterer und geselliger zugegangen in dem großen Hause, das mit Leichtigkeit die Gäste aufnahm. Nur Pastor Tiburtius hatte aus Bescheidenheit sich im Rückgebäude beim Billardsaale ein Zimmer erwählt; die übrigen, Herr Arnoldsen, ein beweglicher, witziger Mann am Ende der Fünfziger mit grauem Spitzbart und einem liebenswürdigen Elan in jeder Bewegung, seine ältere Tochter, eine leidend aussehende Dame, sein Schwiegersohn, ein eleganter Lebemann, der sich von Christian in der Stadt umher und in den Klub führen ließ, und Gerda verteilten sich in den überflüssigen Räumen zu ebener Erde, bei der Säulenhalle, im ersten Stock …
Antonie Grünlich war froh, daß Sievert Tiburtius zur Zeit der einzige Geistliche im elterlichen Hause war … sie war mehr als froh! Die Verlobung ihres verehrten Bruders, die Tatsache, daß ausgemacht ihre Freundin Gerda die Erwählte war, das Glänzende dieser Partie, die den Familiennamen und die Firma mit neuem Schimmer bestrahlte, die 300000 Kurantmark Mitgift, von der sie hatte munkeln hören, der Gedanke, was die Stadt, was die anderen Familien, was im besonderen Hagenströms dazu sagen würden … das alles trug dazu bei, sie in einen Zustand beständiger Entzückung zu versetzen. Dreimal stündlich zum wenigsten umarmte sie ihre zukünftige Schwägerin mit Leidenschaft …
»Oh, Gerda!« rief sie. »Ich liebe dich, weißt du, ich habe dich immer geliebt! Ich weiß ja, du kannst mich nicht leiden, du hast mich immer gehaßt, aber …«
»Aber ich bitte dich, Tony!« sagte Fräulein Arnoldsen. »Wie sollte ich wohl dazu gekommen sein, dich zu hassen? Darf ich fragen, was du mir eigentlich Greuliches angetan hast?«
Aus irgendwelchen Gründen jedoch, wahrscheinlich ganz allein aus übermäßiger Freude und bloßer Lust am Reden, beharrte Tony störrisch dabei, daß Gerda sie immer gehaßt habe, daß sie aber ihrerseits – und ihre Augen füllten sich mit Tränen – diesen Haß stets mit Liebe vergolten habe. Hierauf nahm sie Thomas beiseite und sagte zu ihm: »Das hast du gut gemacht, Tom, o Gott, wie hast du das gut gemacht! Nein, daß Vater dies nicht mehr erlebt … es ist zum Heulen, weißt du! Ja, hiermit wird manches ausgewetzt … nicht zuletzt die Sache mit jener Persönlichkeit, deren Namen ich nicht gern in den Mund nehme …« Worauf es ihr einfiel, Gerda in ein leeres Zimmer zu ziehen und ihr ihre ganze Ehe mit Bendix Grünlich in fürchterlicher Ausführlichkeit zu erzählen. Auch plauderte sie lange Stunden mit ihr von der Pensionszeit, von ihren abendlichen Gesprächen damals, von Armgard von Schilling in Mecklenburg und Eva Ewers in München … Um Sievert Tiburtius und seine Verlobung mit Klara bekümmerte sie sich beinahe gar nicht; aber die beiden trachteten auch nicht danach. Sie saßen meist stille Hand in Hand und sprachen sanft und ernst von einer schönen Zukunft.
Da das Trauerjahr der Buddenbrooks noch nicht abgelaufen war, so wurden die beiden Verlobungen nur in der Familie gefeiert; Gerda Arnoldsen aber war dennoch rasch genug berühmt in der Stadt, ja, ihre Person bildete den hauptsächlichen Gesprächsstoff an der Börse, im Klub, im Stadttheater, in Gesellschaft … »Tipptopp«, sagten die Suitiers und schnalzten mit der Zunge, denn das war der neueste hamburgische Ausdruck für etwas auserlesen Feines, handelte es sich nun um eine Rotweinmarke, um eine Zigarre, um ein Diner oder um geschäftliche Bonität. Aber unter den soliden, biederen und ehrenfesten Bürgern waren viele, die den Kopf schüttelten … »Sonderbar … diese Toiletten, dieses Haar, diese Haltung, dieses Gesicht … ein bißchen reichlich sonderbar.« Kaufmann Sörensen drückte es aus: »Sie hat ein bißchen was Gewisses …«, und dabei wand er sich und machte ein krauses Gesicht, wie wenn ihm an der Börse eine faule Offerte gemacht wurde. Aber es war Konsul Buddenbrook … es sah ihm ähnlich. Ein bißchen prätentiös, dieser Thomas Buddenbrook, ein bißchen … anders: anders auch als seine Vorfahren. Man wußte, besonders der Tuchhändler Benthien wußte es, daß er nicht nur seine sämtlichen feinen und neumodischen Kleidungsstücke – und er besaß deren ungewöhnlich viele: Pardessus, Röcke, Hüte, Westen, Beinkleider und Krawatten – ja auch seine Wäsche aus Hamburg bezog. Man wußte sogar, daß er tagtäglich, manchmal sogar zweimal am Tage, das Hemd wechselte und sich das Taschentuch und den à la Napoleon III. ausgezogenen Schnurrbart parfümierte. Und das alles tat er nicht der Firma und der Repräsentation zuliebe – das Haus »Johann Buddenbrook« hatte das nicht nötig –, sondern aus einer persönlichen Neigung zum Superfeinen und Aristokratischen … wie sollte man das ausdrücken, Teufel noch mal! Und dann diese Zitate aus Heine und anderen Dichtern, die er manchmal bei den praktischsten Gelegenheiten, bei geschäftlichen oder städtischen Fragen in seine Rede einfließen ließ … Und nun diese Frau … Nein, auch an ihm selbst, an Konsul Buddenbrook war »ein bißchen was Gewisses« – – was selbstverständlich mit jederlei Respekt bemerkt werden sollte, denn die Familie war hoch achtbar, und die Firma war von höchster Bonität, und der Chef war ein gescheuter, liebenswürdiger Mann, der die Stadt liebte und ihr sicher noch erfolgreich dienen würde … Und es war ja auch eine höllisch feine Partie, man sprach von runden 100000 Talern Kurant … Indessen … Und unter den Damen befanden sich manche, die Gerda Arnoldsen ganz einfach »albern« fanden; wobei daran zu erinnern ist, daß »albern« einen sehr harten Ausdruck der Verurteilung bedeutete.
Wer aber, seitdem er sie zum ersten Male auf der Straße erschaut, Thomas Buddenbrooks Braut mit einer ingrimmigen Begeisterung verehrte, das war der Makler Gosch. »Ha!« sagte er im Klub oder in der »Schiffergesellschaft«, indem er sein Punschglas emporhielt und sein Intrigantengesicht in greulicher Mimik verzerrte … »Welch ein Weib, meine Herren! Here und Aphrodite, Brünhilde und Melusine in einer Person … Ha, das Leben ist doch schön!« fügte er unvermittelt hinzu; und keiner der Bürger, die um ihn her auf den schweren geschnitzten Holzbänken des alten Schifferhauses unter den Seglermodellen und großen Fischen, die von der Decke herabhingen, saßen und ihren Schoppen tranken, keiner verstand, welches Ereignis das Erscheinen Gerda Arnoldsens in dem bescheidenen und nach Außerordentlichem sehnsüchtigen Leben des Maklers Gosch bedeutete …
Nicht verpflichtet, wie gesagt, zu größeren Festlichkeiten, hatte die kleine Gesellschaft in der Mengstraße desto bessere Muße, vertraut miteinander zu werden. Sievert Tiburtius erzählte, Klaras Hand in der seinen, von seinen Eltern, seiner Jugend und seinen Zukunftsplänen; die Arnoldsens erzählten von ihrem Stammbaum, der in Dresden zu Hause war, und von dem nur dieser eine Zweig in die Niederlande verpflanzt worden sei; und dann verlangte Madame Grünlich nach dem Schlüssel zum Sekretär im Landschaftszimmer und schleppte ernsthaft die Mappe mit den Familienpapieren herbei, in denen Thomas auch die neuesten Daten bereits vermerkt hatte. Sie kündete mit Wichtigkeit von der Geschichte der Buddenbrooks, von dem Gewandschneider zu Rostock an, der sich bereits so sehr gut gestanden, sie las alte Festgedichte vor:
»Tüchtigkeit und zücht'ge Schöne
Sich vor unsrem Blick verband:
Venus Anadyomene
Und Vulcani fleiß'ge Hand …«
wobei sie Tom und Gerda anblinzelte und die Zunge an der Oberlippe spielen ließ; und aus Achtung vor der Historie überging sie keineswegs das Eingreifen in die Familiengeschichte von seiten einer Persönlichkeit, deren Namen sie eigentlich nicht gern in den Mund nahm …
Donnerstags um vier Uhr aber kamen die gewohnten Gäste: Justus Kröger kam mit seiner schwachen Gattin, mit der er sehr in Unfrieden lebte, weil sie selbst nach Amerika noch dem ungeratenen und enterbten Jakob Geld über Geld sandte … sie ersparte es ganz einfach vom Wirtschaftsgelde und aß mit ihrem Manne beinahe nichts als Buchweizengrütze, da war nichts zu machen. Es kamen die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße, die denn doch der Wahrheit die Ehre geben und feststellen mußten, daß Erika Grünlich wieder nicht zugenommen habe, daß sie ihrem Vater, dem Betrüger, noch ähnlicher geworden sei, und daß des Konsuls Braut eine ziemlich auffällige Frisur trage … Und auch Sesemi Weichbrodt kam, stellte sich auf die Zehenspitzen, küßte Gerda mit leise knallendem Geräusch auf die Stirn und sagte bewegt: »Sei glöcklich, du gutes Kend!«
Dann sprach bei Tische Herr Arnoldsen einen seiner witzigen und phantasievollen Toaste zu Ehren der Brautpaare, und hernach, während man den Kaffee nahm, spielte er die Geige wie ein Zigeuner, mit einer Wildheit, einer Leidenschaft, einer Fertigkeit … aber auch Gerda holte ihre Stradivari herbei, von der sie sich niemals trennte, und griff mit ihrer süßen Cantilene in seine Passagen ein, und sie spielten pompöse Duos, im Landschaftszimmer, beim Harmonium, an derselben Stelle, wo einstmals des Konsuls Großvater seine kleinen, sinnigen Melodien auf der Flöte geblasen hatte.
»Erhaben!« sagte Tony, die weit zurückgebeugt in ihrem Lehnsessel saß … »O Gott, wie finde ich es erhaben!« Und ernst, langsam und gewichtig, mit aufwärts gerichteten Augen fuhr sie fort, ihre lebhaften und aufrichtigen Empfindungen auszudrücken … »Nein, wißt ihr, wie es im Leben so geht … nicht jedem wird ja immer eine solche Gabe zuteil! Mir hat der Himmel dergleichen versagt, wißt ihr, obgleich ich ihn in mancher Nacht darum angefleht … Ich bin eine Gans, ein dummes Ding … Ja, Gerda, laß dir sagen … ich bin die Ältere und habe das Leben kennengelernt .... Du solltest täglich deinem Schöpfer auf den Knien dafür danken, ein solch gottbegnadigtes Geschöpf zu sein …!«
»… Begnadetes«, sagte Gerda und zeigte lachend ihre schönen, weißen, breiten Zähne.
Später aber rückten alle zusammen, um gemeinsam über die nächste Zukunft das Nötige zu beratschlagen und Weingelee dazu zu essen. Am Ende des Monats oder Anfang September, so ward beschlossen, würden Sievert Tiburtius sowohl wie Arnoldsens in die Heimat zurückkehren. Gleich nach der Weihnacht sollte Klaras Trauung in der Säulenhalle mit allem Aufwand gefeiert werden, während die Hochzeit in Amsterdam, der »bei Leben und Gesundheit« auch die Konsulin beizuwohnen gedachte, bis zum Beginn des nächsten Jahres verschoben werden mußte: damit eine Ruhepause vorherginge. Es half nichts, daß Thomas sich widersetzte. »Bitte!« sagte die Konsulin und legte die Hand auf seinen Arm … »Sievert hat das prévenir!«
Der Pastor und seine Braut verzichteten auf eine Hochzeitsreise. Gerda und Thomas aber wurden sich einig über eine Route durch Oberitalien nach Florenz. Sie würden etwa zwei Monate abwesend sein; unterdessen aber sollte Antonie, zusammen mit dem Tapezierer Jacobs aus der Fischstraße, das hübsche kleine Haus in der Breiten Straße bereitmachen, das einem nach Hamburg verzogenen Junggesellen gehörte, und dessen Ankauf der Konsul bereits betrieb. Oh, Tony würde das schon zur Zufriedenheit ausführen! »Ihr sollt es vornehm haben!« sagte sie; und davon waren alle überzeugt.