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Buddenbrooks-Vierter Teil-Drittes Kapitel
日期:2022-03-17 16:09  点击:277
Konsul Buddenbrook durchschritt eilig sein weitläufiges Grundstück. Als er in die Bäckergrube hinaustrat, vernahm er hinter sich Schritte und erblickte den Makler Gosch, welcher, malerisch in seinen langen Mantel gehüllt, gleichfalls die schräge Straße hinauf zur Sitzung strebte. Während er mit der einen seiner langen und mageren Hände den Jesuitenhut lüftete und mit der anderen eine glatte Gebärde der Demut vollführte, sprach er mit gepreßter und verbissener Stimme: »Herr Konsul … ich grüße Sie!«
 
Dieser Makler Siegismund Gosch, ein Junggeselle von etwa vierzig Jahren, war trotz seines Gebarens der ehrlichste und gutmütigste Mensch von der Welt; nur war er ein Schöngeist, ein origineller Kopf. Sein glattrasiertes Gesicht zeichnete sich aus durch eine gebogene Nase, ein spitz hervorspringendes Kinn, scharfe Züge und einen breiten, abwärts gezogenen Mund, dessen schmale Lippen er in verschlossener und bösartiger Weise zusammenpreßte. Es war sein Bestreben - und es gelang ihm nicht übel – ein wildes, schönes und teuflisches Intrigantenhaupt zur Schau zu stellen, eine böse, hämische, interessante und furchtgebietende Charakterfigur zwischen Mephistopheles und Napoleon … Sein ergrautes Haar war tief und düster in die Stirn gestrichen. Er bedauerte aufrichtig, nicht bucklig zu sein. – Er war eine fremdartige und liebenswürdige Erscheinung unter den Bewohnern der alten Handelsstadt. Er gehörte zu ihnen, weil er in aller Bürgerlichkeit ein kleines, solides und in seiner Bescheidenheit geachtetes Vermittlungsgeschäft betrieb; in seinem engen, dunklen Kontor aber stand ein großer Bücherschrank, der mit Dichtwerken in allen Sprachen gefüllt war, und es ging das Gerücht, daß er seit seinem zwanzigsten Jahre an einer Übersetzung von Lope de Vegas sämtlichen Dramen arbeite … Einmal jedoch hatte er bei einer Liebhaberaufführung von Schillers »Don Carlos« den Domingo gespielt. Dies war der Höhepunkt seines Lebens. – Niemals war ein unedles Wort über seine Lippen gekommen, und selbst in geschäftlichen Gesprächen brachte er die üblichen Redewendungen nur zwischen den Zähnen und mit einem Mienenspiele hervor, als wollte er sagen: »Schurke, ha! Im Grab verfluch' ich deine Ahnen!« Er war, in mancher Beziehung, der Erbe und Nachfolger des seligen Jean Jacques Hoffstede; nur daß sein Wesen düsterer und pathetischer war und daß ihm nichts von der scherzhaften Heiterkeit eignete, die der Freund des älteren Johann Buddenbrook aus dem vorigen Jahrhundert herübergerettet hatte. – Eines Tages verlor er an der Börse mit einem Schlage sechs und einen halben Kuranttaler an zwei oder drei Papieren, die er spekulativerweise gekauft hatte. Da riß sein dramatisches Empfinden ihn mit sich fort, und er gab eine Vorstellung. Er ließ sich auf einer Bank nieder in einer Haltung, als habe er die Schlacht bei Waterloo verloren, preßte eine geballte Faust gegen die Stirn und wiederholte mehrere Male mit einem gotteslästerlichen Augenaufschlag: »Ha, verflucht!« Da die kleinen, ruhigen, sicheren Gewinste, die er beim Verkaufe dieses oder jenes Grundstückes einstrich, ihn im Grunde langweilten, so war dieser Verlust, dieser tragische Schlag, mit dem der Himmel ihn, den Intriganten, getroffen, ein Genuß, ein Glück für ihn, an dem er wochenlang zehrte. Auf die Anrede: »Ich höre, Sie haben Unglück gehabt, Herr Gosch? Das tut mir leid …«, pflegte er zu antworten: »Oh, mein werter Freund! Uomo non educato dal dolore riman sempre bambino!« Begreiflicherweise verstand das niemand. War es von Lope de Vega? Fest stand, daß dieser Siegismund Gosch ein gelehrter und merkwürdiger Mensch war.
 
»Welche Zeiten, in denen wir leben!« sagte er zu Konsul Buddenbrook, während er, in gebückter Haltung auf seinen Stock gestützt, neben ihm die Straße hinaufschritt. »Zeiten des Sturmes und der Bewegung!«
 
»Da haben Sie recht«, erwiderte der Konsul. Die Zeiten seien bewegt. Man dürfe auf die heutige Sitzung gespannt sein. Das ständische Prinzip …
 
»Nein, hören Sie!« fuhr Herr Gosch zu sprechen fort. »Ich bin den ganzen Tag unterwegs gewesen, ich habe den Pöbel beobachtet. Es waren herrliche Bursche darunter, das Auge flammend von Haß und Begeisterung …«
 
Johann Buddenbrook fing an zu lachen. »Sie sind mir der Rechte, mein Freund! Sie scheinen Gefallen daran zu finden? Nein, erlauben Sie mir … eine Kinderei, das alles! Was wollen diese Menschen? Eine Anzahl ungezogener junger Leute, die die Gelegenheit benützen, ein bißchen Spektakel zu machen …«
 
»Gewiß! Allein man kann nicht leugnen … Ich war dabei, als Schlachtergeselle Berkemeyer Herrn Benthiens Fensterscheibe zerwarf … Er war wie ein Panther!« Das letzte Wort sprach Herr Gosch mit besonders fest zusammengebissenen Zähnen und fuhr dann fort: »Oh, man kann nicht leugnen, daß die Sache ihre erhabene Seite besitzt! Es ist endlich einmal etwas anderes, wissen Sie, etwas Unalltägliches, Gewalttätiges, Sturm, Wildheit … ein Gewitter … Ach, das Volk ist unwissend, ich weiß es! Jedoch mein Herz, dieses mein Herz, es ist mit ihm …« Sie waren schon vor das einfache, mit gelber Ölfarbe gestrichene Haus gelangt, in dessen Erdgeschoß sich der Sitzungssaal der Bürgerschaft befand.
 
Dieser Saal gehörte zu der Bier- und Tanzwirtschaft einer Witwe namens Suerkringel, stand aber an gewissen Tagen den Herren von der »Bürgerschaft« zur Verfügung. Von einem schmalen, gepflasterten Korridor aus, an dessen rechter Seite sich Restaurationslokalitäten befanden, und auf dem es nach Bier und Speisen roch, betrat man ihn linkerhand durch eine aus grüngestrichenen Brettern gefertigte Tür, die weder Griff noch Schloß besaß und so schmal und niedrig war, daß niemand hinter ihr einen so großen Raum vermutet hätte. Der Saal war kalt, kahl, scheunenartig, mit geweißter Decke, an der die Balken hervortraten, und geweißten Wänden; seine drei ziemlich hohen Fenster hatten grüngemalte Kreuze und waren ohne Gardinen. Ihnen gegenüber erhoben sich amphitheatralisch aufsteigend die Sitzreihen, an deren Fuß ein grün gedeckter, mit einer großen Glocke, Aktenstücken und Schreibutensilien geschmückter Tisch für den Wortführer, den Protokollführer und die anwesenden Senatskommissare bestimmt war. An der Wand, die den Türen gegenüberlag, waren mehrere hohe Garderobehalter mit Mänteln und Hüten bedeckt.
 
Stimmengewirr schlug dem Konsul und seinem Begleiter entgegen, als sie hintereinander durch die schmale Tür den Saal betraten. Sie waren ersichtlich die Letzten, die ankamen. Der Raum war gefüllt mit Bürgern, welche, die Hände in den Hosentaschen, auf dem Rücken, in der Luft, in Gruppen beieinander standen und disputierten. Von den 120 Mitgliedern der Körperschaft waren sicherlich 100 versammelt. Eine Anzahl von Abgeordneten der Landbezirke hatte es unter den obwaltenden Umständen vorgezogen, zu Hause zu bleiben.
 
Dem Eingang zunächst stand eine Gruppe, die aus kleineren Leuten, aus zwei oder drei unbedeutenden Geschäftsinhabern, einem Gymnasiallehrer, dem »Waisenvater« Herrn Mindermann und Herrn Wenzel, dem beliebten Barbier, bestand. Herr Wenzel, ein kleiner, kräftiger Mann mit schwarzem Schnurrbart, intelligentem Gesicht und roten Händen, hatte den Konsul noch heute morgen rasiert; hier jedoch war er ihm gleichgestellt. Er rasierte nur in den ersten Kreisen, er rasierte fast ausschließlich die Möllendorpfs, Langhals', Buddenbrooks und Överdiecks, und seiner Allwissenheit in städtischen Dingen, seiner Umgänglichkeit und Gewandtheit, seinem bei aller Unterordnung merklichen Selbstbewußtsein verdankte er seine Wahl in die Bürgerschaft.
 
»Wissen Herr Konsul das Neueste?« rief er eifrig und mit ernsten Augen seinem Gönner entgegen …
 
»Was soll ich wissen, mein lieber Wenzel?«
 
»Man konnte es heute morgen noch nicht erfahren haben … Herr Konsul entschuldigen, es ist das Neueste! Das Volk zieht nicht vor das Rathaus oder auf den Markt! Es kommt hierher und will die Bürgerschaft bedrohen! Redakteur Rübsam hat es aufgewiegelt …«
 
»Ei, nicht möglich!« sagte der Konsul. Er drängte sich zwischen den vorderen Gruppen hindurch nach der Mitte des Saales, wo er seinen Schwiegervater zusammen mit den anwesenden Senatoren Doktor Langhals und James Möllendorpf erblickte. »Ist es denn wahr, meine Herren?« fragte er, indem er ihnen die Hände schüttelte …
 
In der Tat, die ganze Versammlung war voll davon; die Tumultuanten zogen hierher, sie waren schon zu hören …
 
»Die Canaille!« sagte Lebrecht Kröger kalt und verächtlich. Er war in seiner Equipage hierhergekommen. Die hohe, distinguierte Gestalt des ehemaligen »à la mode-Kavaliers« begann, unter gewöhnlichen Umständen von der Last seiner achtzig Jahre gebeugt zu werden; heute aber stand er ganz aufrecht, mit halb geschlossenen Augen, die Mundwinkel, über denen die kurzen Spitzen seines weißen Schnurrbartes senkrecht emporstarrten, vornehm und geringschätzig gesenkt. An seiner schwarzen Sammetweste blitzten zwei Reihen von Edelsteinknöpfen …
 
Unweit dieser Gruppe gewahrte man Hinrich Hagenström, einen untersetzten, beleibten Herrn mit rötlichem, ergrautem Backenbart, einer dicken Uhrkette auf der blau karierten Weste und offenem Leibrock. Er stand zusammen mit seinem Kompagnon, Herrn Strunck, und grüßte den Konsul durchaus nicht.
 
Weiterhin hatte der Tuchhändler Benthien, ein wohlhabend aussehender Mann, eine große Anzahl anderer Herren um sich versammelt, denen er haarklein erzählte, wie es sich mit seiner Fensterscheibe begeben habe … »Ein Ziegelstein, ein halber Ziegelstein, meine Herren! Krach … hindurch und dann auf eine Rolle grünen Rips … Das Pack!… Nun, es ist Sache des Staates …«
 
In irgendeinem Winkel vernahm man unaufhörlich die Stimme des Herrn Stuht aus der Glockengießerstraße, welcher, einen schwarzen Rock über dem wollenen Hemd, sich an der Auseinandersetzung beteiligte, indem er mit entrüsteter Betonung beständig wiederholte: »Unerhörte Infamie!« – Übrigens sagte er »Infamje«.
 
Johann Buddenbrook ging umher, um hier seinen alten Freund C. F. Köppen, dort den Konkurrenten desselben, Konsul Kistenmaker, zu begrüßen. Er drückte dem Doktor Grabow die Hand und wechselte ein paar Worte mit dem Branddirektor Gieseke, dem Baumeister Voigt, dem Wortführer Doktor Langhals, einem Bruder des Senators, mit Kaufleuten, Lehrern und Advokaten …
 
Die Sitzung war nicht eröffnet, aber die Debatte war äußerst rege. Alle Herren verfluchten diesen Skribifax, diesen Redakteur, diesen Rübsam, von dem man wußte, daß er die Menge aufgewiegelt habe … und zwar wozu? Man war hier, um festzustellen, ob das ständische Prinzip in der Volksvertretung beizubehalten oder das allgemeine und gleiche Wahlrecht einzuführen sei. Der Senat hatte bereits das letztere beantragt. Was aber wollte das Volk? Es wollte den Herren an den Kragen, das war alles. Es war, zum Teufel, die faulste Lage, in der sich die Herren jemals befunden hatten! Man umringte die Senatskommissare, um ihre Meinung zu erfahren. Man umringte auch Konsul Buddenbrook, der wissen mußte, wie Bürgermeister Överdieck sich zu der Sache verhielt; denn seitdem im vorigen Jahre Senator Doktor Överdieck, ein Schwager Konsul Justus Krögers, Senatspräsident geworden war, waren Buddenbrooks mit dem Bürgermeister verwandt, was sie in der öffentlichen Achtung beträchtlich hatte steigen lassen …
 
Plötzlich schwoll draußen das Getöse an … Die Revolution war unter den Fenstern des Sitzungssaales angelangt! Mit einem Schlage verstummten die erregten Meinungsäußerungen hier drinnen. Man faltete, stumm vor Entsetzen, die Hände auf dem Bauch und sah einander ins Gesicht oder auf die Fenster, hinter denen sich Fäuste erhoben und ein ausgelassenes, unsinniges und betäubendes Hoh- und Höhgeheul die Luft erfüllte. Dann jedoch, ganz überraschend, als ob die Aufständischen selbst über ihr Betragen erschrocken gewesen wären, ward es draußen ebenso still wie im Saale, und in der tiefen Lautlosigkeit, die sich über das Ganze legte, ward lediglich in der Gegend der untersten Sitzreihen, wo Lebrecht Kröger sich niedergelassen hatte, ein Wort vernehmbar, das kalt, langsam und nachdrücklich sich dem Schweigen entrang: »Die Canaille!«
 
Gleich darauf tat in irgendeinem Winkel ein dumpfes und entrüstetes Organ den Ausspruch: »Unerhörte Infamje!«
 
Und dann flatterte plötzlich die eilige, zitternde und geheimnisvolle Stimme des Tuchhändlers Benthien über die Versammlung hin …
 
»Meine Herren … meine Herren … hören Sie auf mich … Ich kenne das Haus … Wenn man auf den Boden steigt, so gibt es da eine Dachluke … Ich habe schon als Junge Katzen dadurch geschossen … Man kann ganz gut aufs Nachbardach klettern und sich in Sicherheit bringen …«
 
»Nichtswürdige Feigheit!« zischte der Makler Gosch zwischen den Zähnen. Er lehnte mit verschränkten Armen am Wortführertische und starrte, gesenkten Hauptes, mit einem grauenerregenden Blick zu den Fenstern hinüber.
 
»Feigheit, Herr? Wieso? Gottesdunner … Die Leute werfen mit Ziegelsteinen! Ick heww da nu 'naug von …«
 
In diesem Augenblick wuchs draußen der Lärm von neuem an, aber ohne sich wieder zu der anfänglichen stürmischen Höhe zu erheben, tönte er nun ruhig und ununterbrochen fort, ein geduldiges, singendes und beinahe vergnügt klingendes Gesumme, in welchem man hie und da Pfiffe sowie einzelne Ausrufe wie »Prinzip!« und »Bürgerrecht!« unterschied … Die Bürgerschaft lauschte mit Andacht.
 
»Meine Herren«, sprach nach einer Weile der Wortführer Herr Doktor Langhals mit gedämpfter Stimme über die Versammlung hin. »Ich hoffe, mich mit Ihnen im Einverständnis zu befinden, wenn ich nunmehr die Sitzung eröffne …«
 
Das war ein unmaßgeblicher Vorschlag, dem aber weit und breit nicht die geringste Unterstützung zuteil wurde.
 
»Da bün ick nich für tau haben«, sagte jemand mit einer biederen Entschlossenheit, die keinen Einwand gestattete. Es war ein bäuerlicher Mann namens Pfahl, aus dem Ritzerauer Landbezirk, der Deputierte für das Dorf Klein-Schretstaken. Niemand erinnerte sich, seine Stimme schon einmal in den Verhandlungen vernommen zu haben; allein in der gegenwärtigen Lage fiel die Meinung auch des schlichtesten Kopfes schwer ins Gewicht … Unerschrocken und mit sicherem politischen Instinkt hatte Herr Pfahl der Anschauung der gesamten Bürgerschaft Ausdruck verliehen.
 
»Gott soll uns bewahren!« sagte Herr Benthien entrüstet. »Da oben auf den Sitzen kann man von der Straße aus gesehen werden! Die Leute werfen mit Ziegelsteinen! Nee, Gottesdunner, ick heww da nu 'naug von …«
 
»Daß auch die verfluchte Tür so eng ist!« stieß der Weinhändler Köppen verzweifelt hervor. »Wenn wir hinaus wollen, drücken wir ja wol dot … drücken wir uns ja wol!«
 
»Unerhörte Infamje«, sprach dumpf Herr Stuht.
 
»Meine Herren!« begann der Wortführer eindringlich aufs neue. »Ich bitte Sie, doch zu erwägen … Ich habe binnen drei Tagen eine Ausfertigung des heute zu führenden Protokolles dem regierenden Bürgermeister zuzustellen … Überdies erwartet die Stadt die Veröffentlichung durch den Druck … Ich möchte jedenfalls zur Abstimmung darüber schreiten, ob die Sitzung eröffnet werden soll …«
 
Aber abgesehen von einigen wenigen Bürgern, die den Wortführer unterstützten, fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, zur Tagesordnung überzugehen. Eine Abstimmung hätte sich als zwecklos erwiesen. Man durfte das Volk nicht reizen. Niemand wußte, was es wollte. Man durfte es nicht durch einen Beschluß nach irgendeiner Richtung hin vor den Kopf stoßen. Man mußte abwarten und sich nicht regen. Von der Marienkirche schlug es halb fünf …
 
Man bestärkte einander in dem Entschlusse, geduldig auszuharren. Man begann, sich an das Geräusch zu gewöhnen, das dort draußen anschwoll, abnahm, pausierte und wieder einsetzte. Man fing an, ruhiger zu werden, sich's bequemer zu machen, sich auf den unteren Sitzreihen und den Stühlen niederzulassen … Die Betriebsamkeit all dieser tüchtigen Bürger begann sich zu regen … Man wagte hie und da, über Geschäfte zu sprechen, hie und da sogar ein Geschäft zu machen … Die Makler näherten sich den Großkaufleuten … Die eingeschlossenen Herren plauderten miteinander wie Leute, die während eines heftigen Gewitters beisammen sitzen, von anderen Dingen reden und manchmal mit ernsten und respektvollen Gesichtern auf den Donner horchen. Es wurde fünf Uhr, halb sechs Uhr, und die Dämmerung sank. Dann und wann seufzte jemand darüber, daß seine Frau mit dem Kaffee warte, worauf Herr Benthien sich erlaubte, die Dachluke in Erinnerung zu bringen. Aber die meisten dachten darüber wie Herr Stuht, der mit einem fatalistischen Kopfschütteln erklärte: »Ich bin ja doch zu dick dazu!«
 
Johann Buddenbrook hatte sich, eingedenk der Mahnung der Konsulin, neben seinem Schwiegervater gehalten, und er betrachtete ihn etwas besorgt, als er ihn fragte: »Dies kleine Abenteuer geht Ihnen hoffentlich nicht nahe, Vater?«
 
Unter dem schneeweißen Toupet waren auf Lebrecht Krögers Stirn zwei bläuliche Adern in besorgniserregender Weise geschwollen, und während die eine seiner aristokratischen Greisenhände mit den opalisierenden Knöpfen an seiner Weste spielte, zitterte die andere, mit einem großen Brillanten geschmückt, auf seinen Knien.
 
»Papperlapapp, Buddenbrook!« sagte er mit sonderbarer Müdigkeit. »Ich bin ennuyiert, das ist das Ganze.« Aber er strafte sich selber Lügen, indem er plötzlich hervorzischte: »Parbleu, Jean! man müßte diesen infamen Schmierfinken den Respekt mit Pulver und Blei in den Leib knallen … Das Pack …! Die Canaille …!«
 
Der Konsul summte begütigend. »So … so … Sie haben ja recht, es ist eine ziemlich unwürdige Komödie … Aber was soll man tun? Man muß gute Miene machen. Es wird Abend. Die Leute werden schon abziehen …«
 
»Wo ist mein Wagen?… Ich befehle meinen Wagen!« kommandierte Lebrecht Kröger gänzlich außer sich. Seine Wut explodierte, er bebte am ganzen Leibe. »Ich habe ihn auf fünf Uhr bestellt!… Wo ist er?… Die Sitzung wird nicht abgehalten … Was soll ich hier?… Ich bin nicht gesonnen, mich narren zu lassen!… Ich will meinen Wagen!… Insultiert man meinen Kutscher? Sehen Sie nach, Buddenbrook!«
 
»Lieber Schwiegervater, um Gottes willen, beruhigen Sie sich! Sie alterieren sich … das bekommt Ihnen nicht! Selbstverständlich … ich gehe nun, mich nach Ihrem Wagen umzusehen. Ich selbst bin dieser Lage überdrüssig. Ich werde mit den Leuten sprechen, sie auffordern, nach Hause zu gehen …«
 
Und obgleich Lebrecht Kröger protestierte, obgleich er mit plötzlich ganz kalter und verächtlicher Betonung befahl: »Halt, hiergeblieben! Sie vergeben sich nichts, Buddenbrook!« schritt der Konsul schnell durch den Saal.
 
Dicht bei der kleinen grünen Tür wurde er von Siegismund Gosch eingeholt, der ihn mit knochiger Hand am Arm ergriff und mit gräßlicher Flüsterstimme fragte: »Wohin, Herr Konsul?…«
 
Das Gesicht des Maklers war in tausend tiefe Falten gelegt. Mit dem Ausdruck wilder Entschlossenheit schob sich sein spitzes Kinn fast bis zur Nase empor, sein graues Haar fiel düster in Schläfen und Stirn, und er hielt seinen Kopf so tief zwischen den Schultern, daß es ihm wahrhaftig gelang, das Aussehen eines Verwachsenen zu bieten, als er hervorstieß: »Sie sehen mich gewillt, zum Volke zu reden!«
 
Der Konsul sagte: »Nein, lassen Sie mich das lieber tun, Gosch … Ich habe wahrscheinlich mehr Bekannte unter den Leuten …«
 
»Es sei!« antwortete der Makler tonlos. »Sie sind ein größerer Mensch als ich.« Und indem er seine Stimme erhob, fuhr er fort: »Aber ich werde Sie begleiten, ich werde an Ihrer Seite stehen, Konsul Buddenbrook! Mag die Wut der entfesselten Sklaven mich zerreißen …«
 
»Ach, welch ein Tag! Welch ein Abend!« sagte er, als sie hinausgingen … Sicherlich hatte er sich noch niemals so glücklich gefühlt. »Ha, Herr Konsul! Da ist das Volk!«
 
Die beiden hatten den Korridor überschritten und traten vor die Haustür hinaus, indem sie auf der oberen der drei schmalen Stufen stehen blieben, die auf das Trottoir führten. Die Straße bot einen befremdenden Anblick. Sie war ausgestorben, und an den offenen, schon erleuchteten Fenstern der umliegenden Häuser gewahrte man Neugierige, die auf die schwärzliche, sich vorm Bürgerschaftshause drängende Menge der Aufrührer hinabblickten. Diese Menge war an Zahl nicht viel stärker als die Versammlung im Saale und bestand aus jugendlichen Hafen- und Lagerarbeitern, Dienstmännern, Volksschülern, einigen Matrosen von Kauffahrteischiffen und anderen Leuten, die in den geringen Stadtgegenden, in den »Twieten«, »Gängen«, »Wischen« und »Höfen« zu Hause waren. Auch drei oder vier Frauen waren dabei, die sich von diesem Unternehmen wohl ähnliche Erfolge versprachen, wie die Buddenbrooksche Köchin. Einige Empörer, des Stehens müde, hatten sich, die Füße im Rinnstein, auf den Bürgersteig gesetzt und aßen Butterbrot.
 
Es war bald sechs Uhr, und obgleich die Dämmerung weit vorgeschritten war, hingen die Öllampen unangezündet an ihren Ketten über der Straße. Diese Tatsache, diese offenbare und unerhörte Unterbrechung der Ordnung, war das erste, was den Konsul Buddenbrook aufrichtig erzürnte, und sie war schuld daran, daß er in ziemlich kurzem und ärgerlichem Tone zu sprechen begann: »Lüd, wat is dat nu bloß für dumm Tüg, wat Ji da anstellt!«
 
Die Vespernden waren vom Trottoir emporgesprungen. Die Hinteren, jenseits des Fahrdammes, stellten sich auf die Zehenspitzen. Einige Hafenarbeiter, die im Dienste des Konsuls standen, nahmen ihre Mützen ab. Man machte sich aufmerksam, stieß sich in die Seiten und sagte gedämpft: »Dat's Kunsel Buddenbrook! Kunsel Buddenbrook will 'ne Red' hollen! Holl din Mul, Krischan, hei kann höllschen fuchtig warn!… Dat's Makler Gosch … kiek! Dat's son Aap!… Is hei 'n beeten öwerspönig?«
 
»Corl Smolt!« fing der Konsul wieder an, indem er seine kleinen, tiefliegenden Augen auf einen etwa 22jährigen Lagerarbeiter mit krummen Beinen richtete, der, die Mütze in der Hand und den Mund voll Brot, unmittelbar vor den Stufen stand. »Nu red' mal, Corl Smolt! Nu is' Tiet! Ji heww hier den leewen langen Namiddag bröllt …«
 
»Je, Herr Kunsel …«, brachte Corl Smolt kauend hervor. »Dat's nu so 'n Saak … öäwer … Dat is nu so wied … Wi maaken nu Revolutschon.«
 
»Wat's dat för Undög, Smolt!«
 
»Je, Herr Kunsel, dat seggen Sei woll, öäwer dat is nu so wied … wi sünd nu nich mihr taufreeden mit de Saak … Wie verlangen nu ne anner Ordnung, un dat is ja ook gor nich mihr, daß dat wat is …«
 
»Hür mal, Smolt, un ihr annern Lüd! Wer nu 'n verstännigen Kierl is, der geht naa Hus un scheert sich nich mihr um Revolution und stört hier nich de Ordnung …«
 
»Die heilige Ordnung!« unterbrach Herr Gosch ihn zischend …
 
»De Ordnung, seg ick!« beschloß Konsul Buddenbrook. »Nicht mal die Lampen sind angezündet … Dat geiht denn doch tau wied mit de Revolution!«
 
Corl Smolt aber hatte nun seinen Bissen verschluckt und, die Menge im Rücken, stand er breitbeinig da und hatte seine Einwände …
 
»Je, Herr Kunsel, dat seggen Sei woll! Öäwer dat is man bloß wegen das allgemeine Prinzip von dat Wahlrecht …«
 
»Großer Gott, du Tropf!« rief der Konsul und vergaß, platt zu sprechen vor Indignation … »Du redest ja lauter Unsinn …«
 
»Je, Herr Kunsel«, sagte Corl Smolt ein bißchen eingeschüchtert; »dat is nu allens so as dat is. Öäwer Revolutschon mütt sien, dat is tau gewiß. Revolutschon is öwerall, in Berlin und in Poris …«
 
»Smolt, wat wull Ji nu eentlich! Nu seggen Sei dat mal!«
 
»Je, Herr Kunsel, ick seg man bloß: wi wull nu 'ne Republike, seg ick man bloß …«
 
»Öwer du Döskopp … Ji heww ja schon een!«
 
»Je, Herr Kunsel, denn wull wi noch een.«
 
Einige der Umstehenden, die es besser wußten, begannen schwerfällig und herzlich zu lachen, und obgleich die wenigsten die Antwort Corl Smolts verstanden hatten, pflanzte diese Heiterkeit sich fort, bis die ganze Menge der Republikaner in breitem und gutmütigem Gelächter stand. An den Fenstern des Bürgerschaftssaales erschienen mit neugierigen Gesichtern einige Herren mit Bierseideln in den Händen … Der einzige, den diese Wendung der Dinge enttäuschte und schmerzte, war Siegismund Gosch.
 
»Na Lüd«, sagte schließlich Konsul Buddenbrook, »ick glöw, dat is nu dat beste, wenn ihr alle naa Hus gaht!«
 
Corl Smolt, gänzlich verdutzt über die Wirkung, die er hervorgebracht, antwortete: »Je, Herr Kunsel, dat is nu so, un denn möht man de Saak je woll up sick beruhn laten, un ick bün je ook man froh, dat Herr Kunsel mi dat nich öwelnehmen daut, un adjüs denn ook, Herr Kunsel …«
 
Die Menge fing an, sich in der allerbesten Laune zu zerstreuen.
 
»Smolt, töf mal 'n Oogenblick!« rief der Konsul. »Seg mal, hast du den Krögerschen Wagen nich seihn, de Kalesch' vorm Burgtor?«
 
»Jewoll, Herr Kunsel! De is kamen. De is doar unnerwarts upp Herr Kunsel sin Hoff ruppfoahrn …«
 
»Schön; denn loop mal fixing hin, Smolt, un seg tau Jochen, hei sall mal 'n beeten rannerkommen; sin Herr will naa Hus.«
 
»Jewoll, Herr Kunsel!« … Und indem er seine Mütze auf den Kopf warf und den Lederschirm ganz tief in die Augen zog, lief Corl Smolt mit breitspurigen, wiegenden Schritten die Straße hinunter. 

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